Alles im Doppelpack
Die zweijährigen Zwillinge Sina und Thilda leben seit Geburt mit der äusserst seltenen Krankheit Neutropenie – die grösste Herausforderung liegt für die siebenköpfige Familie darin, einen möglichst «normalen» Alltag zu gestalten.

Als im Februar 2016 die Zwillinge Sina und Thilda zur Welt kamen, war Tanja Kipp bereits eine erfahrene Mutter. Genau wie bei den zwei Neugeborenen verliefen auch die drei vorherigen Schwangerschaften und Geburten ihrer Kinder Maurice, Fiona und Thilo – heute 13, 10 und 9 Jahre alt – alle problemlos. «Doch zwei, drei Tage nach der Geburt, als wir schon wieder zuhause waren», erzählt Tanja Kipp rückblickend, «spürte ich, dass im Vergleich zu den anderen Geburten irgendetwas anders war». Was genau denn nun anders war, konnte sie jedoch nicht sagen. «Es war einfach so ein Gefühl».
Kaum zu Hause, schon wieder im Spital
Grund zur Sorge gab es für sie und ihren Mann Sebastian auch keinen, als die zwei Neugeborenen kurz darauf erhöhte Temperatur hatten. Die Konsultation beim Kinderarzt im nahe gelegenen Schaffhausen verlief dann auch beruhigend. Dort teilte man ihnen mit, dies liege wohl daran, dass schon bald die ersten Zähnchen kommen würden.
Als sich jedoch Tage später der Bauchnabel von Thilda entzündete, überwies der Kinderarzt sie zur näheren Untersuchung ins Spital Winterthur, wo man dem Mädchen wegen schlechter Blutwerte eine Antibiotika-Kur verschrieb.
«Ich weiss noch genau», erinnert sich Tanja Kipp, «da habe ich gedacht: Die Arme, kaum auf der Welt, muss sie nach der Geburt schon wieder ins Spital». Glücklicherweise durfte Thilda bald darauf wieder nach Hause. Kurz danach wurde ihre Zwillingsschwester Sina wegen hohen Fiebers ins Krankenhaus eingeliefert. «Ihr Hirnwasser wurde kontrolliert, um bakterielle Infekte auszuschliessen. Nach rund zehn Tagen konnte sie wieder nach Hause, ohne dass wir jedoch eine besondere Diagnose oder konkrete Ergebnisse hatten», erzählt Sebastian Kipp.
Unter Vollnarkose operiert
Erstmals so richtig Sorgen machten sich die jungen Eltern, als vier Wochen später Sina mit einem angeschwollenen Lymphknoten am Hals aufwachte. «Es war schon ein bisschen speziell, sah es doch aus, als hätte Sina einen Tischtennisball verschluckt, der im Hals steckengeblieben ist», erzählt Tanja Kipp. Ein weiteres Mal wurde das Mädchen daraufhin von ihrem Vater, zu einer vertieften Untersuchung, ins Winterthurer Spital gebracht.
Einen Tag später war auch der Lymphknoten ihrer Zwillingsschwester Thilda geschwollen, woraufhin auch sie zu Sina und ihrem Vater nach Winterthur gebracht wurde. Von dort wurden die beiden Mädchen ins Kinderspital Zürich verlegt, wo wegen der anhaltend schlechten Blutwerte ihr Knochenmark untersucht wurde. Konkret bedeutete dies: Innerhalb von 24 Stunden wurden die Zwillinge unter Vollnarkose operiert, um Knochenmark zu entnehmen.
Eingespieltes abendliches Ritual
Natürlich wurden die jungen Eltern dabei von den Ärzten betreut und auch vorinformiert. «Um mich selbst zu schützen und auf eine eventuell gravierende Diagnose vorbereitet zu sein, habe ich einfach mit dem Schlimmsten gerechnet», erinnert sich Tanja Kipp an ihre pragmatische Haltung damals.
Kurze Zeit später stand dann die Diagnose tatsächlich fest: schwere Neutropenie, eine äusserst seltene Krankheit, bei der zu wenig weisse Blutkörperchen gebildet werden. Was diese Diagnose konkret und im Alltag bedeutet, erfuhren Sebastian und Tanja in den darauf folgenden Tagen und daran hat sich bis heute nichts geändert. Täglich erhalten Sina und Thilda von ihren Eltern eine Spritze, «mal in den Oberarm, mal in den Bauch, mal in den Oberschenkel».
Für die Mädchen ist es mittlerweile ein Abendritual: Nach dem Zähneputzen gibt es eine Spritze und danach geht's ab ins Bett. Darüber hinaus kontrolliert der Kinderarzt alle vier Wochen das Blut, einmal pro Jahr wird den Zwillingen im Kinderspital Knochenmark entnommen, über alle Krankheiten und Fieber wird minutiös Buch geführt.
Neutropenie
Bei der Neutropenie handelt sich um eine Krankheit, bei der sich unzureichend neutrophile Granulozyten im Blut befinden. Die äusserst seltene Krankheit ist damit die häufigste Form der Leukopenie. Diese bezeichnet eine Verminderung der weissen Blutkörperchen, auch Leukozyten genannt, welche im Knochenmark ausgereift werden.
Die Anzahl neutrophiler Granulozyten im Blut eines gesunden Menschen ist variabel und liegt zwischen 1800 und 8000 Zellen in einem Mikroliter Blut. Sinken diese Granulozyten bis zu einem Wert von 1000 Stück pro Mikroliter, sprechen die Ärzte von einer leichten Neutropenie. Bei einer moderaten Form befinden sich zwischen 500 und 1000 neutrophile Granulozyten im Blut. Vermindert sich die Anzahl der Zellen auf unter 500 in einem Mikroliter, liegt eine schwere Form der Krankheit vor (Granulozytopenie, in der schwersten Form eine Agranulozytose).
Die neutrophilen Granulozyten stehen bei der Abwehr von Erregern an vorderster Stelle. Sie gehören zum unspezifischen Immunsystem im menschlichen Organismus. Leiden die Patienten an der Erkrankung, erhöht sich bei ihnen die Infektionsgefahr. Liegt eine akute Entzündung im Körper vor, verbrauchen die körpereigenen Abwehrkräfte zahlreiche neutrophile Granulozyten, um den Entzündungsprozess zu unterdrücken. Bleibt die Entzündung über einen längeren Zeitraum bestehen, stockt die Neuproduktion der Zellen: Das Knochenmark braucht zu lange, um die neutrophilen Granulozyten zu bilden, sodass im Körper ein Mangel entsteht. Nach dem Abklingen der Infektion reguliert sich die Neuproduktion der besonderen weissen Blutkörperchen. Jedoch zeigen sich die neu gebildeten Zellen unreif, da es sich bei ihnen um Vorläuferzellen handelt. Fachlich nennt sich der Prozess eine Linksverschiebung.
Die schwere Neutropenie ist äusserst selten, sie tritt bei rund einer von 1 Million Personen auf.
Herausfordernder Familienalltag
Viel herausfordernder als die medizinische Betreuung der seltenen Krankheit erwies sich jedoch die daraus folgende Bewältigung des Alltags. Dabei ist es noch das kleinste Problem, dass die Kinder darauf verzichten müssen, die Ställe der benachbarten Bauern wegen der Bakterien zu besuchen oder dass zu Hause und unterwegs ständig alles desinfiziert werden muss. Viel anspruchsvoller ist die Tatsache, dass beim kleinsten Verdacht einer erhöhten Temperatur bei den Zwillingen sofort gehandelt werden muss, da dies ein Zeichen dafür sein kann, dass ein Infekt vorliegt oder die Medikamente nicht wirken.
«Ab einer Temperatur von 37,5 Grad wird alle 20 Minuten das Fieber gemessen, bei 38,5 Grad dürfen wir die Zwillinge ohne Voranmeldung direkt ins Kinderspital Zürich bringen», erzählt Tanja Kipp, die aus diesem Grund auch ständig und überall ein Fieberthermometer auf sich trägt. Erhöhte Temperatur kommt regelmässig, das heisst alle sechs bis acht Wochen vor. «Und natürlich tauchen Fieber und die damit verbundene Fahrt ins Spital immer schön am Freitagabend auf oder wenn wir Termine haben», erzählt Sebastian Kipp lachend. Der Feuerpolizist und Schutzraumkontrolleur scheint trotz der schweren Krankheit seiner Kinder den Humor nicht verloren zu haben.
So viel wie nötig, so wenig wie möglich
Neben den akuten Notfällen büschelt die Familie ihren Alltag präventiv um die Krankheit der Mädchen herum, und zwar nach dem Motto «So viel wie nötig, so wenig wie möglich».
Denn Tatsache ist, dass die Krankheit und Aufmerksamkeit der Zwillinge für die anderen Kinder und die ganze Familie eine sowohl psychische als auch physische Belastung darstellt und alles, wie Tanja Kipp trocken sagt, «sozusagen im Doppelpack daherkommt». Ist beispielsweise eines der übrigen Kinder krank, gibt es für dieses «Zimmerarrest», das heisst, das Kind wird von den Zwillingen möglichst ferngehalten. Gleichzeitig sind die ständige Unsicherheit, das ständige «Diagnose-auf-und-Ab» und die Ungewissheit, ob schon am nächsten Tag wieder notfallmässig der normale Alltag auf den Kopf gestellt wird, für die Geschwister der Zwillinge eine ständige Begleiterin.
Wunsch nach Ruhe und Stabilität
Zwar haben sich Tanja und Sebastian Kipp mittlerweile ein gut funktionierendes Netzwerk aus Freunden, Nachbarn und Lehrern aufgebaut, welches im Notfall – «wenn wieder mal Spital angesagt ist» – so weit wie möglich die Ausnahmesituation überbrücken hilft.
Doch damit das Familienschiff auf Kurs bleibt, nicht «alles aus dem Ruder läuft» und alle, insbesondere auch Maurice, Fiona und Thilo, genügend Aufmerksamkeit erhalten und sich nicht permanent zurückgesetzt fühlen, wünschen sich alle Beteiligten vorab Ruhe und Stabilität bei der Krankheit der Zwillinge. Was glücklicherweise in den vergangenen Wochen der Fall war – sich aber dennoch unvorhergesehen und spontan wieder ändern kann.
«Im Grossen und Ganzen geht es momentan gut, die etwas ruhigere Zeit nutzen wir nun gezielt, um mit den älteren Kindern unsere Situation zu besprechen, anzuschauen und aufzuarbeiten», erzählt Tanja Kipp. «Wir versuchen alle, so gut es geht, halt einen Tag nach dem anderen zu nehmen.»
Weitere Informationen
Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten: www.kmsk.ch