Mitten im Leben – und dann Parkinson: Jede zehnte Diagnose betrifft Menschen unter 50 Jahren. Auch die heute 63-jährige Anita Sauter aus Romanshorn lebt seit bald 20 Jahren mit ihrem ungeliebten «Untermieter».

Eigentlich sei sie zu jung «dafür», hatte ihr Hausarzt gesagt. Damals war Anita Sauter 45. Heute ist sie 63. Und weiss: Die Worte, so beruhigend sie sich anhörten, waren leider falsch. Wegen eines Routinetermins hatte sie den Arzt aufgesucht. Nur beiläufig erwähnte sie das Zittern der Hand, das sich beim Schreiben in letzter Zeit bemerkbar machte. Und ihre Schrift, die plötzlich kleiner wurde. Zu jung, eben, sagte der Arzt. Eigentlich. Und meldete sie zur weiteren Abklärung an. Schnell wurde aus dem vagen Verdacht die düstere Diagnose: Parkinson. Mit 45 Jahren. Mitten im Leben, zwei Söhne im Schulalter, einen Job als Spitex-Pflegerin. Und dieser Befund, der das Leben, wie es sich vorher vor ihr auszubreiten schien, brutal infrage stellte, bald auch beschnitt und unberechenbar machte.

Gefangensein im eigenen Körper

Irgendwo tickt eine Uhr. Anita Sauter spricht mit sanfter Stimme. Es ist die nachlassende Beweglichkeit und Kraft der Stimmbänder, die Parkinson-Betroffene leiser sprechen lässt. Über 15’000 Menschen in der Schweiz leben mit der Erkrankung, bei der es zur fortschreitenden Schädigung von Nervenzellen im Gehirn kommt. Nicht so bekannt ist, dass rund 10 Prozent der Betroffenen vor dem 50. Geburtstag erkranken. Heilungschancen: bisher keine. Die Behandlung konzentriert sich darauf, die Symptome zu mildern. Das Zittern der Muskeln, das Verlangsamen der Bewegungen, das Erstarren. «Ein Gefangensein im eigenen Körper», beschreibt es Sauter. «Niemals werde ich ‹ihn› akzeptieren», habe sie damals gesagt. Ihren «Untermieter», wie sie ihre Krankheit – scherzhaft und doch ernst – nennt. Zu gross war der Schock. Wie eine «Faust ins Gesicht» erlebte sie in dieser Zeit eine Parkinson-Tagung, an der andere Betroffene ihr quasi ihre Zukunft vor Augen führten.

Immer wieder reden

Erst im Gespräch mit einem Bekannten, der seit Jahren an Parkinson litt, fasste sie etwas Mut. Er riet ihr, nicht den gleichen Fehler zu machen wie er: «Zieh dich nicht zurück, es geht dir besser, wenn du darüber sprichst.» Sauter hat auf ihn gehört. Sie begann, sich in der Selbsthilfe zu engagieren. Bis heute leitet sie die Gruppe für junge Parkinson-Patienten JUPP Säntis. Auch hält sie Vorträge über Parkinson in Schulen. Und als sie sich vor neun Jahren zu einer «Tiefenhirnstimulation» entschied, liess sie sich vom Ostschweizer Fernsehen TVO begleiten. Der operative Eingriff kann bei bestimmten Patientinnen und Patienten die Symptome verringern. «Ich hole schnell den Laptop.» Mit kleinen, fast rennenden Schritten geht sie ins Nebenzimmer. Es passiere in letzter Zeit oft, dass sie renne oder gar rückwärtsgehe. Sie stellt den Laptop und eine ergonomisch geformte Maus auf den Tisch. Erst will der Cursor nicht. Doch dann erscheint auf dem Bildschirm eine jüngere Version ihrer selbst, die – vor der Operation – über den grossen Entscheid spricht.

Tiefpunkt in der Badewanne

Schweigend blickt Sauter auf den Bildschirm. Jahre habe sie gebraucht, bis sie bereit Gewesen sei für den Eingriff. Davor wurden ihre Symptome erst schwerer und schwerer. «Zunächst war etwa meine Hand blockiert, wenn ich den Schwingbesen benutzte.» Sie brauche eine dritte Hand, rief sie dann ihren Söhnen, die sehr hilfsbereit geworden seien. Vermehrt war sie auch beim Gehen «wie festgefroren am Boden». Ihr Gang wurde unsicherer, torkelnd, es kam zu Stürzen und Brüchen. Und mehr als einmal hörte sie von Fremden Dinge wie: «Sauf doch noch mehr!» Am Schlimmsten war es morgens, bis die Medikamente wirkten. Ihren Tiefpunkt – und den Moment, in dem sie sich für die Operation entschied – erreichte sie, als sie eines Tages nach dem Duschen eine halbe Stunde lang so blockiert war, dass sie nicht aus der Wanne kam. Seither übertragen zwei Elektroden in ihrem Gehirn elektrische Impulse an bestimmte Hirnregionen. «Während ich am Tag vor dem Eingriff noch eher kroch, ging danach auf einmal wieder fast alles. Es war verrückt.» Via ein Kabel unter der Haut sind die Elektroden mit einem Schrittmacher im Bauchraum verbunden. Sauter zeigt auf ihren Hals, an dem das Kabel, ähnlich einer hervorstehenden Vene, sichtbar ist.

Symptome besser im Griff

Aufhalten oder heilen lässt sich Parkinson auch mit einer Tiefenhirnstimulation nicht. Doch die Symptome lassen sich teils besser im Griff halten als nur mit Medikamenten. So kann Sauter seit der Operation zum Beispiel wieder unbeschwerter zu Hobbys radeln, zum Minigolf- oder Dartspielen etwa. Weil die Sturzgefahr mit einem konventionellen Velo dennoch gross wäre, nutzt sie ein Dreirad. Regelmässig passt der Neurologe die Einstellungen des Hirnstimulators an ihren Krankheitsverlauf an. Medikamente braucht sie weiterhin. Fünfmal am Tag. Sie blickt zur Uhr, holt ihre Medikamentenbox und nimmt eine Tablette. Stets die optimale Dosierung zu finden, sei nicht einfach. «Ist sie zu hoch, springe ich wie ein Häsli. Ist sie zu tief, friere ich wieder fest.»

Sie schweigt und schaut aus dem Fenster ihrer Wohnung nahe dem Bahnhof Romanshorn. Ein Zug fährt vorbei. «Manchmal bin ich hässig», sagt sie dann. Hässig auf ihn, den «Untermieter». Sie habe sich mit ihm abgefunden, ja. Aber manchmal wünsche sie sich, er wäre weniger präsent. «Wäre ich ein Haus, kann er meinetwegen den Dachstock haben.» Dort aber, so erhofft sie sich, solle er bleiben.