Will Sonja W. ihrem zweijährigen Kind die Mütze anziehen, dreht sie diese erst von innen nach aussen und stülpt sie dann so über den Kopf, dass sie wieder richtig sitzt. Alles einhändig. Denn der linke Arm der zweifachen Mutter, auch Hand und Finger, ist fast ganz gelähmt. «Man entwickelt Tricks», erklärt die 37-Jährige, während sie in ihrer Küche in einer Zürcher Wohnsiedlung den Espressokocher zuschraubt, ebenfalls einhändig. Dann, das linke Bein leicht nachziehend, setzt sie sich an den Esstisch und erzählt.
Auf einen Schlag hat sich ihr Leben vor acht Jahren verändert. An jenem Morgen im März sass sie in der Teamsitzung des Ambulatoriums, in dem sie als Psychotherapeutin arbeitete. Gerade stellte sie einen Fall vor. Da überkam sie Schwindel, sie sah alles bunt, spürte ihre linke Seite nicht mehr, wurde ohnmächtig. Ihr Team reagierte sofort. Im Unglück ein Glück. Denn Sonja W., damals 29, hatte eine Hirnblutung, einen hämorrhagischen Schlaganfall, bei dem jede Minute zählt. Sofort wurde sie in eine Klinik gebracht, ins Koma versetzt und operiert. «Wäre es nicht so schnell gegangen, hätte ich nicht überlebt.»
Nichts mehr wie früher
Der Kaffee kocht über. «Oh, ich bin nicht mehr gut in Multitasking.» Sie nimmt die Kanne vom Herd, schenkt ein. Bis heute habe sie neben den Lähmungen auch Einschränkungen, die man nicht sehe. Das Kurzzeitgedächtnis etwa mache ihr sehr zu schaffen. «Manchmal frage ich meinen Partner dreimal das Gleiche.» Es war eine angeborene Gefässmissbildung in Sonjas Hirn, die zum Schicksalsschlag geführt hatte. Diese hätte aber auch ein Leben lang unbemerkt bleiben können. «‹Warum ich?› ist eine Frage, die man sich so oder so stellt.» Zweieinhalb Wochen blieb sie nach der Operation im künstlichen Koma. Einmal nahm sie wahr, dass ihre Schwester weinend am Bett sass. Sonst erinnert sie sich an nichts. Auch in den Reha-Monaten, die folgten, begriff sie nur langsam, wie wenig noch war wie früher. Bis sie irgendwo diese Skier sah und plötzlich weinen musste. «Da realisierte ich zum ersten Mal wirklich, was los ist. Nie mehr würde ich Ski fahren können, dachte ich.» Damals sass
sie im Rollstuhl, ihre linke Körperseite war noch komplett gelähmt.
Mit hartem Training zurück ins Leben
Die Reha dauerte viele Monate. Dank hartem Training mit einem Laufroboter konnte die entschlossene Patientin ein Jahr später wieder gehen. In einer betreuten Wohnung lernte sie darauf, sich im Alltag neu zurechtzufinden. Erst zwei Jahre nach der Hirnblutung zog sie wieder mit ihrem Partner zusammen – von der früheren Wohnung im dritten Stock ohne Lift in eine rollstuhlgängige Alternative in ihrer jetzigen Siedlung.
Gemeinsam setzten die beiden darauf die Bruchstücke ihres früheren Alltags neu zusammen. Inzwischen sind sie zudem Eltern einer vierjährigen und einer zweijährigen Tochter. Lange hätten sie überlegt, ob dies zu schaffen sei. Heute beweisen sie täglich, dass es geht. Zwei Tage pro Woche sind die Kinder in der Kita. An einem Tag übernimmt Papa, an einem weiteren betreuen dessen Eltern die Kleinen. Und freitags, das ist Mamas Tag. «Dann habe ich den Ehrgeiz, dass es klappt und wir mindestens einmal nach draussen gehen. Auch im Winter.» Der Trick mit der Mütze hilft dabei.
«Zauberhand, geh weg!»
Vor allem ihre Kinder sind es, die Sonja W. für neue Ziele motivieren. Gerade übt sie in der Physiotherapie, sie mit beiden Armen zu umarmen. «Ich halte den linken Arm nach vorn, dann packe ich ihn so mit der rechten Hand.» Sie zeigt es vor. Viele Bewegungen lassen sich durch Training weiter verbessern. Hand und Finger aber werde sie links wohl nie mehr bewegen können.
Bei manchen Dingen hilft ihr inzwischen ihre Vierjährige. Hin und wieder verlangt diese von ihrer Mutter aber auch, dass sie beide Hände nutzt. «Dann sage ich, das ist meine Zauberhand, die macht nicht, was ich will.» Für die Tochter ist das normal. Manchmal, wenn sie auf Mamas Schoss will, ist ihr der Arm aber im Weg. Dann sagt sie: «Zauberhand, geh weg!» Mama selbst wünscht sich die Zauberhand oft ganz weg. «Ich hadere bis heute mit meinem Schicksal», sagt Sonja W. Wenn sie etwa andere Mütter sehe, die ihre Kinder mit beiden Händen hochheben. Oder wenn sie sich elegant anziehen möchte. Sie zeigt auf ihre Füsse. «Ich trage selbst zu Hause Trekkingschuhe. Sonst würde ich einknicken.»
Schätzen, was geht
Doch sie versucht, mehr zu schätzen, was noch geht. Liebte sie früher das Bouldern, geht sie heute zum Klettern ins Kletterzentrum Greifensee. Einmal wöchentlich besucht sie dort mit anderen Betroffenen den Kletterkurs von FRAGILE Suisse, der Patientenorganisation für Menschen mit Hirnverletzungen. Anstelle ihres Velos, mit dem sie an jenem Morgen ein letztes Mal zur Arbeit fuhr, ist sie mit einem dreirädrigen Liegerad unterwegs. Selbst auf Skiern stand sie wieder – mit einer Skilehrerin und der Hilfe eines Seils. Dass sie irgendwann wieder arbeiten kann, gar als Psychotherapeutin, wagt sie kaum zu hoffen, wünscht es sich aber sehr. Vieles sei verloren gegangen, ja, sagt sie dann. «Aber ich habe auch vieles bekommen.» Sie deutet auf das Kinderstühlchen am Tisch, das Bäbiwägeli im Wohnzimmer, die Zeichnungen an den Wänden. In ihren Kindern finde sie Kraft und Zuversicht. Und in schwierigeren Momenten denke sie daran, dass sie «eine Überlebende » sei. «Und daran, wie viel ich schon geschafft habe.»