Vor etwa fünfeinhalb Jahren fing alles an, erzählt Nadja*. Plötzlich hatte sie diesen starken Ekel vor Gegenständen, die zuvor von anderen Personen angefasst wurden oder die mit dem Boden in Berührung kamen. «In meinem Job hatte ich viel mit Paketen zu tun», erzählt die 31-jährige. «Diese konnte ich nur widerwillig vom Boden hochheben. Und danach musste ich mir immer sofort die Hände waschen.» Fasste einer ihrer Arbeitskollegen ein Paket und dann die Türklinke an, ekelte sie sich stark vor der Tür. «Manchmal habe ich dann einfach gewartet, bis mir jemand die Türe aufhält – oder ich blieb halt einfach drinnen oder draussen, damit ich sie nicht berühren musste.» Sie fing an, sich bei der Arbeit oft und intensiv die Hände zu waschen, hatte das Gefühl, dauernd «sauber oder sogar steril» sein zu müssen. Irgendwann drehten sich die Gedanken den ganzen Tag lang nur noch darum. Ihre Arbeitskollegen und auch ihre Familie wurden auf ihr Verhalten aufmerksam, sprachen sie auf das häufige Waschen an. Nadja merkte bald: Ihr Verhalten ist zwanghaft und sie braucht Hilfe.
Am Anfang steht der Zwangsgedanke
Fälle wie den von Nadja beobachtet Dr. phil. Charles Benoy von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel in seinem Behandlungsalltag oft. Laut dem Experten kommen Wasch- und Kontrollzwänge am häufigsten vor. Dazu kommen Zwänge mit aggressivem oder sexuellem Bezug – beispielsweise die Angst, man könnte jemanden etwas antun oder jemanden ungewollt begrapschen. Bei manchen Personen können sogar mehrere Zwangsstörungen gleichzeitig auftreten. Und etwa die Hälfte erlebt irgendwann im Verlauf ihres Lebens auch eine Depression, die oft ausgelöst werde durch die Aussichtslosigkeit, die Betroffene im Zusammenhang mit ihrem Zwang erleben. Jeder Zwangshandlung – beispielsweise dem Händewaschen – geht dabei immer der Zwangsgedanke voraus. «Den Patientinnen und Patienten erkläre ich das immer so, dass der Gedanke der Angstmacher und die Handlung der Angstbeseitiger ist. Ein bestimmter Gedanke löst in mir Angst aus – das kann jede Form von Angst sein.
Der Angstbeseitiger dient dann dazu, die Angst zu neutralisieren. » Dass der Zwang als Gedanke beginnt, beobachtet Nadja bei sich selber: «Wenn ich eine Situation beobachte, vor der ich mich ekle – dass beispielsweise jemand etwas vom Boden hochhebt –, dann versuche ich mir einzureden: Das ist jetzt gar nicht passiert, das hast du nicht gesehen. Ich sage mir das immer wieder, vielleicht 100 Mal nacheinander, bis ich es glaube. Das funktioniert manchmal sehr gut, und irgendwann ist das Gefühl weg.»
«Die meisten sind sich der Sinnlosigkeit Ihrer Zwangshandlung bewusst»
Natürlich haben wir alle Ängste – und vielleicht sogar eine Handlung, ein Ritual, um damit umzugehen. So beispielsweise zu beobachten bei Sportlern: Michael Jordan trug unter seinem Chicago-Bulls-Trikot immer die Shorts seines College-Teams, der North Carolina Tar Heels. Natürlich reiner Aberglaube. «Der Aberglaube ist in seiner magischen Denkart dem Zwangsgedanken sehr ähnlich, die damit zusammenhängenden Gefühle sind jedoch viel schwächer», erklärt Dr. Benoy. Auch Rituale hat nahezu jeder, denn sie vermitteln uns das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle. Erst wenn man selber oder das eigene Umfeld anfängt, unter derartigen Ritualen zu leiden, ist die Grenze zur Zwangsstörung überschritten.
Schätzungsweise 2–4 % der Bevölkerung leiden an einer Zwangsstörung. Dieses Krankheitsbild kommt also viel häufiger vor als beispielsweise die Schizophrenie – und trotzdem wird darüber noch immer kaum gesprochen, sagt Dr. Charles Benoy. Grund dafür ist die grosse Scham, die mit Zwangsstörungen einhergeht. Einerseits werden Betroffene für ihre teils skurril anmutenden Zwangshandlungen durch andere Personen stigmatisiert; andererseits stigmatisieren sie sich aber bereits selber, denn: «Die meisten sind sich der Sinnlosigkeit ihrer Zwangshandlung absolut bewusst.» So auch Nadja: Sie habe sehr wohl gewusst, dass ihr Verhalten «nicht normal» sei. Trotzdem konnte sie nicht aufhören, sich immer wieder zu waschen.
Behandlung braucht viel Geduld
Obwohl die Krankheits-Einsicht bei den meisten Betroffenen gegeben ist, dauert es laut Dr. Benoy durchschnittlich sieben bis zehn Jahre, bis sich jemand mit einer Zwangsstörung in professionelle Behandlung begibt. Rund 70 % könnten gut therapiert werden, doch erfordere die Behandlung viel Geduld. Im Gespräch werden Angstmacher identifiziert und gemeinsam hinterfragt, und Patientinnen und Patienten lernen imBeisein des Therapeuten, die Angst auszuhalten. Nadja suchte zwar immer wieder das Gespräch mit verschiedenen medizinischen Fachpersonen, scheute sich aber trotzdem lange vor einer Therapie. Mehrmals überlegte sie, ob sie ihre Stelle aufgeben soll, um nicht mehr jeden Tag mit ihrem Waschzwang konfrontiert zu sein. Nach fünfeinhalb Jahren nahm ihr der Arbeitgeber vor ein paar Wochen die Entscheidung ab: Nadja verlor ihren Job. Davor hatte sie unglücklicherweise auch ihre Wohnung gekündigt und kämpfte mit weiteren privaten Problemen – und erlitt schliesslich einen Nervenzusammenbruch. Seit ein paar Wochen ist sie am UPK in Basel in stationärer Behandlung, insgesamt acht Wochen lang. Die Therapie finde hauptsächlich in der Gruppe mit anderen Betroffenen statt, erzählt sie, und beinhaltet etwa Aufmerksamkeits- oder Meditationsübungen. «Zurzeit ist es einfach schon nur beruhigend, dass ich mich auf mich selber konzentrieren kann, ohne mir dauernd Sorgen machen zu müssen», sagt sie. «Ich rate jedem, unbedingt Hilfe zu suchen, bevor der Zwang noch schlimmer wird.»
Hilfe für Betroffene
In den meisten Fällen verlaufen Zwangsstörungen chronisch – sie verstärken sich also und eine Spontanheilung, wie es beispielsweise bei einer Depression vorkommen kann, ist sehr unwahrscheinlich. Deshalb sollten Personen mit Zwangsstörungen so früh wie möglich die Hilfe einer Psychotherapeutin oder eines Psychiaters in Anspruch nehmen. Auf der Website der Schweizerischen Gesellschaft für Zwangsstörungen, kurz SGZ, finden Betroffene und Angehörige ein nahezu flächendeckendes Netzwerk von Spezialisten und Selbsthilfegruppen. Zudem veranstaltet die SGZ jährlich Informationsveranstaltungen für Fachpersonen und Angehörige sowie Betroffene. Die nächste Tagung wird am 23. und 24. Januar 2021 stattfinden. Alle Informationen finden Sie auf
www.zwaenge.ch