Für Mirjam Lüscher hört Corona einfach nicht auf: Seit mehr als eineinhalb Jahren leidet die 46-jährige Baslerin an Long Covid. Kopfschmerzen, Konzentrationsprobleme und Müdigkeit begleiten sie bis heute im Alltag.

Am Vorhang von Mirjam Lüschers Küchenfenster klemmt eine kleine Meise. Auf der Ablage steht eine Giesskanne in Form eines Flamingos. Und im Innenhof, sichtbar von der Küche aus, stolziert ein Storch – er ist echt. «Manchmal fliegt er hierher aus dem nahen Zoo», so die 46-jährige Baslerin. Vögel gibt es in ihrem Alltag offenbar einige. Eine Leichtigkeit aber, wie sie Vögel haben, fehlt. «Es ist, als ob ein Elefant auf mir sitzt.» Immer dann, wenn sie zu viel gemacht hat. Und «zu viel» konnte bis vor Kurzem das Ausräumen des Geschirrspülers sein. Mirjam Lüscher leidet an Long Covid: Manche Symptome ihrer Covid-19-Infektion gehen einfach nicht weg. Auch wenn es nach langer Zeit allmählich aufwärts geht: Da sind noch immer oft diese abgrundtiefe Müdigkeit, die Kopfschmerzen, die Konzentrationsprobleme. «Oder ich begegne Bekannten und weiss ihre Namen nicht. Das tut weh.»

««Es ist, wie wenn eine Steinplatte auf meinem Brustkorb läge»
Mirjam Lüscher

Genesen, aber nicht gesund

Angesteckt hatte Lüscher sich im Oktober 2020 bei einer Freundin. «Wir sassen hier am Küchentisch und tranken ein Likörchen.» Sie lacht, auch heute noch. «Negative Gefühle der Freundin gegenüber? Sie konnte doch nichts dafür.» Auch jetzt stellt Lüscher Gläser auf die gelbkarierte Tischdecke und schenkt Wasser ein. Bei der Freundin sei die Infektion glimpflich abgelaufen. Sie aber hatte kurz darauf hohes Fieber, wahnsinnige Kopfschmerzen, später auch Atemnot. «Wie wenn eine Steinplatte auf meinem Brustkorb läge.» Das ging eine Woche so, zwei, bald drei. «Es war heftig.» Aber irgendwann sank das Fieber, sie galt als genesen. «Nur gesund fühlte ich mich nicht.» Neben Kopfweh hatte sie weiterhin Muskelschmerzen, auch Nesselfieber und eben diese Kurzatmigkeit – «so ein Lufthunger». Schnell wollte ihr Hausarzt sie jedoch nicht mehr krankschreiben. Sie soll zum Pneumologen, riet er. Oder zum Psychiater. Lüscher suchte sich eine andere Ärztin und fand mehr Verständnis.

Keine Kraft mehr für nichts

Schrittweise nahm die Baslerin darauf ihre Arbeit in einer schulischen Tagesstruktur wieder auf. Im Team betreut sie 80 bis 100 Schulkinder. «Oft höre ich: ‹Oh, wie stressig!› Für mich war es das nie, für mich war das schön.» Nun aber überstand sie diese Tage nur mit einer Reihe von Medikamenten: Kortison-Spray, Schmerztabletten, Antihistaminika. Nach Feierabend schleppte sie sich heim, brauchte Pausen im Treppenhaus, um in ihre Wohnung im zweiten Stock zu gelangen, und hatte keine Kraft mehr zum Kochen. Doch sie sei ein optimistischer Mensch. «Das wird schon wieder», dachte sie immer. «Ich war ja vorher gesund und fit.» Gedanken an Long Covid schob sie weg. Als der Frühling kam, hoffte sie auf die Impfung. Im Sommer dann, nach dem Stich, tatsächlich das Gefühl: «Wow, ich bin wieder gesund!» Nur hielt die Wirkung nicht an. «Das Nesselfieber bin ich seither los. Alles andere war zwei Wochen später wieder da.» Das erneute Aufflammen der Symptome beförderte Lüscher zum Tiefpunkt. «Ich merkte, ich kann einfach nicht mehr.» Das sei wohl nötig gewesen, glaubt sie heute, um die Krankheit zu akzeptieren. «Denn das hat Kraft gekostet.» So wurde es August, bis sie sich arbeitsunfähig schreiben und zur Long-Covid-Sprechstunde anmelden liess.

«Es ist schwer, zu vermitteln, was Long Covid bedeutet»
Mirjam Lüscher

Ein stetes Auf und Ab

Eine Reihe von Tests folgte und ergab wenig. Die Blutwerte waren normal, das Herz unauffällig. Dagegen wies ein Lungentest auf allergisches Asthma hin. Ob als Folge einer Coronainfektion, liess sich nicht beweisen. «Doch früher hatte ich nie Atemnot.» Auf dem Küchentisch blinkt es. Ihr Handy. Lüscher schaut auf das Display, stellt das Gerät auf stumm, hält inne. «Wo waren wir? Ich verliere oft den Faden.» Ab dem späteren Nachmittag sacke ihre Konzentration jeweils ganz ab. Auch ihre Merkfähigkeit habe sich zwar bei Tests als normal erwiesen. «Wenn ich mir zehn Wörter merken muss und mich an sechs erinnere, liegt das in der Norm. Aber ich weiss ja, dass ich es früher besser konnte.» Inzwischen habe sie bei Ärztinnen und Ärzten ein Umdenken bemerkt. Doch anfänglich fühlte sich Lüscher oft nicht ernst genommen, manchmal belächelt. Auch im Privaten erlebte sie Unverständnis, Freundschaften gingen zu Bruch. Jetzt hast du schon wieder Kopfweh? Denk mal positiv! Geh an die Luft. Oder früher ins Bett. Solche Dinge hört sie bis heute. «Es ist schwer, zu vermitteln, was Long Covid bedeutet. Und dass es nicht konstant aufwärts geht, sondern ständig rauf und runter.»

Erst Schwindel, dann der Elefant

Dass das «Rauf» allmählich mehr werde, lässt sie weiter hoffen. «Letztes Jahr war mein ‹Akku› bei 20 Prozent, heute ist er bei 40.» Sie lacht: «Jetzt kann ich den Geschirrspüler wieder ohne Pause ausräumen.» Geholfen haben ihr ambulante Therapien. Eine Atemtherapie etwa verschaffte ihr buchstäblich wieder Luft. Auch lernte sie, ihre Energie einzuteilen. Sie zeigt auf die schlichte Pulsuhr an ihrem Handgelenk. 86 steht da. «Bleibe ich stets unter 100, kann ich Einbrüche vermeiden.» Sogenannte Crashs. Gemüse rüstet sie daher nur noch im Sitzen. Und weil sie dabei liegen kann, macht sie Pilates. Sich auspowern wie früher im Fitnesscenter oder beim Joggen? Geht nicht. Ihr Puls wäre an der Decke. Und wenn sie nicht aufpasst, erlebt sie bis heute Crashs: Erst wird ihr schwindlig. Dann spürt sie wieder den Elefanten. «Ich schaffe dann kaum noch die paar Meter ins Bad. Es ist, wie wenn ich mit Gewicht an den Füssen durch ein Fondue waten müsste.» Dazu wieder Schmerzen, im Kopf, in den Muskeln, und ein Gefühl wie Watte im Kopf. Doch Crashs werden seltener, dank Energiemanagement. Auch halten sie nicht mehr tagelang an wie früher.

Das Leben zurückgewinnen

Ja, es gehe ihr besser. Leider nicht gut genug, um etwa an ein Konzert zu gehen. Früher war sie oft an Open Airs mit ihrer Tochter. Ihre vor Corona gekauften Hallenstadion-Tickets für die Abschiedstour einer Rockband im Mai schenkte sie schweren Herzens einer Kollegin. Selbst ein Buch zu lesen, strengt sie noch zu sehr an. Und die Arbeitsversuche, die sie nun, nach neun Monaten, wagt? Sie hofft, dass sie es schafft. Bei der IV ist sie dennoch angemeldet – «irgendwie surreal!» –, aber man habe ihr dazu geraten. Ob sie auf Leistungen zählen könnte, sei offen. Doch ihr Job habe ihr gefehlt. Sie wolle wieder arbeiten. Wohl auch, um ein wichtiges Stück ihres Lebens zurückzugewinnen. Auch wenn Long Covid viel Platz darin einnehme: «Es ist bloss ein Teil von mir.» Hoffentlich ein immer kleinerer!