Der kleine Engel mit dem grossen Lachen
Menschen, welche wie die 17-jährige Alissa, die seltene angeborene Störung des Angelman-Syndroms in sich tragen, lachen überdurchschnittlich oft.

Alissas Augen sprühen vor Schalk, als sie an diesem trüben, winterlichen Vorabend zuhause am Stubentisch auf ihrem iPad demonstrativ auf das Zeichen mit dem traurigen Smiley drückt, worauf das Gerät auf Züritütsch verkündet: «Ich bin truurig.»
Zwei-, dreimal hintereinander drückt sie darauf. Immer wieder will sie’s hören. Und je öfter das Gerät die offensichtliche Unwahrheit verkündet, desto unbändiger lacht und freut sich die 17-Jährige und schaut dabei vergnügt in die Familienrunde: zu ihrer Mutter Karin Hiestand-von Heyking, ihrem Vater Sigi sowie zu Joceline, ihrer 15-jährigen Schwester, zu Nikolai, ihrem 12-jährigen Bruder, und schliesslich zu Pearl, ihrer schwarzen Katze.
Ein ruhiges und fröhliches Baby
So vergnügt geht’s natürlich – genau wie in jeder anderen Familien auch – längst nicht immer zu und her. Was ihre Familie jedoch von anderen, sogenannten «normalen» unterscheidet, ist die Tatsache, dass Alissa eine 24-Stunden-Betreuung erfordert. Sie trägt seit ihrer Geburt das äusserst seltene Angelman-Syndrom in sich. Dies ist eine Genbesonderheit auf dem Chromosom 15 und bringt mit sich, dass Alissa zu einem sehr grossen Teil auf Hilfe angewiesen ist: Sie kann unter anderem weder sprechen, noch selbstständig draussen herumlaufen, noch kann sie sich selber ankleiden.
«Als sie ein Kleinkind war, haben wir schon gemerkt, dass ihre Entwicklung im Vergleich zu anderen etwas schleppender vor sich ging», erinnert sich ihre Mutter. «Doch allzu grosse Sorgen haben wir uns zu Beginn darüber nicht gemacht. Sie war halt einfach ein sehr ruhiges, jedoch gleichzeitig sehr fröhliches Kind.» Und schliesslich fangen auch andere Kleinkinder erst spät an zu laufen oder rauben den Eltern den Schlaf, weil sie nächtelang weinen.
Befreiende Gewissheit
Trotzdem wurde die kleine Alissa als 2-Jährige im Zürcher Kinderspital untersucht, eine klare Diagnose jedoch konnte keine erstellt werden. Eine solche war erst drei Jahre später möglich, als Alissa als 5-Jährige einen Epilepsie-Anfall hatte und der behandelnde Professor kurz darauf das Angelman-Syndrom diagnostizierte. «Die Gewissheit zu haben, was Alissa genau hatte, hat uns schon sehr erleichtert», erinnert sich Sigi von Heyking.
«Gleichzeitig jedoch bereitete uns die Tatsache, dass es eine Genbesonderheit war und die Möglichkeit bestand, dass diese ja eventuell weitergegeben werden kann, auch wiederum Sorge, erwarteten wir doch zu dieser Zeit unser drittes Kind. Die Untersuchungen zeigten jedoch keine Abnormalität, was uns sehr beruhigte.»
Umso freudiger wurde die Geburt des mittlerweile 12-jährigen Nikolai erwartet, und umso überraschender war dann die Tatsache, dass dieser mit lediglich einer Hand zur Welt kam. «Im ersten Moment hat uns das dann doch etwas geschockt», erinnert sich Sigi von Heyking. Niki selber, wie er heute genannt wird, kümmert dies jedoch wenig. Er hat gelernt, damit umzugehen, kennt nichts anderes und klettert mittlerweile gar freudig und gerne auf Bäume.
Angelman-Syndrom
Der britische Kinderarzt Harry Angelman (1915–1996) mit dem Fachgebiet Neurologie beschrieb im Jahr 1965 das später nach ihm benannte Syndrom erstmals unter wissenschaftlichen esichtspunkten. Er nannte es aufgrund des auffälligen Bewegungsmusters und des häufigen Lachens der Kinder, die er damals betreute, Happy-Puppet-Syndrom (engl.: Glückliche-Puppe-Syndrom). Das Angelman-Syndrom ist die Folge einer seltenen Genbesonderheit auf dem Chromosom 15. Die Besonderheit trifft sowohl Jungen als auch Mädchen und tritt mit einer Häufigkeit von 1:15‘000 bis 1:20‘000 auf, wobei davon auszugehen ist, dass das Angelman-Syndrom vielfach nicht als solches diagnostiziert wird, sondern beispielsweise als Autismus.
Charakteristisch für das Angelman-Syndrom ist eine starke Verzögerung der körperlichen und geistigen Entwicklung und das Ausbleiben der Sprache. Die geistige Entwicklung der meisten Betroffenen erreicht in etwa den Stand von Kleinkindern. Betroffene mit dem Angelman-Syndrom bedürfen auch als Jugendliche oder Erwachsene ständiger Betreuung, weil sie sich nicht selbst versorgen und Gefahren nicht erkennen können. Angelman-Kinder sind oft hyperaktiv und haben Mühe sich zu konzentrieren. Drei von vier Angelman-Kindern leiden unter epileptischen Anfällen. Unbehandelt bergen diese ein ständiges Verletzungsrisiko, da sie beispielsweise mitten aus der Bewegung heraus zu Stürzen führen.
Personen mit Angelman-Syndrom haben eine normale Lebenserwartung. Eine Aussicht auf Heilung besteht bislang nicht. Durch ihr überdurchschnittlich häufiges Lachen sind Angelman-Kinder sehr fröhliche Menschen.
Wichtiger Austausch
In dieser intensiven Zeit rund um Nikis Geburt und die Angelman-Diagnose für Alissa informierten sich deren Eltern, insbesondere über das Internet, vertieft über die seltene Krankheit ihrer ältesten Tochter. «Zu entdecken und zu wissen, dass wir nicht mehr alleine sind mit unseren Sorgen, unserem Alltag, unseren Herausforderungen im Umgang damit sowie mit unserer Ungewissheit, tat und tut uns gut. Auch heute noch sind wir via Internet mit anderen betroffenen Eltern verbunden, tauschen uns aus, geben uns gegenseitig Tipps und informieren uns über neuste Forschungsergebnisse. Das gibt uns Sicherheit», erzählt Karin Hiestand-von Heyking.
Das Interesse und Engagement von ihr ging so weit, dass sie 2013 zusammen mit anderen Betroffenen in der Schweiz den Angelman Verein Schweiz gründete. Dieser informiert, berät und unterstützt Eltern, Angehörige und Freunde von Menschen mit dem Angelman-Syndrom, fungiert als Anlaufstelle für betroffene Familien und interessierte Fachleute und fördert den Austausch zwischen Forschung, Praxis und betroffenen Familien. In der Schweiz sind momentan rund 35 bis 40 Menschen, die das Angelman-Syndrom in sich tragen, bekannt.
Keine Stolperfallen
Doch trotz Austausch und vertieftem Wissen, die Herausforderungen, welche Alissas Krankheit im Alltag mit sich bringt, bleiben riesig. Ein kurzer Blick in einige der häufigsten Symptome von Betroffenen mag Aussenstehenden eine Ahnung davon geben: von Hyperaktivität, leichter Erregbarkeit, über Bewegungs- und Gleichgewichtsstörungen, übermässigen Speichelfluss, Epilepsie-Anfälle bis hin zu Selbstverletzungen.
Alissa selber hat viele dieser Symptome. Zwar kann sich die 17-jährige in der Wohnung selber frei bewegen, doch wurden sämtliche Stolperfallen wie etwa Teppiche entfernt, damit sie nicht stürzen und sich dabei verletzen kann. Um die Treppe hoch oder hinunterzusteigen wiederum braucht sie Hilfe und muss begleitet werden. Hat sie Durst, geht sie einen Becher holen, hat sie Hunger, zeigt Alissa mit der Hand in der Küche, worauf sie Lust hat, muss sie auf die Toilette, hält sie sich den Bauch.
Sie nehmen, wie sie ist
Schwieriger wird es, wenn sich Alissa wegen dem gestörten Schmerzbewusstsein selber Schmerzen zufügt, um sich selber zu spüren. Da kann es dann schon passieren, dass sie sich selber Zehennägel ausreisst, sich den Kopf bewusst am Türrahmen blutig schlägt oder sich in der Nacht das Zahnfleisch aufreisst und am Morgen mit blutbeflecktem Kissen aufwacht. «Dies sind dann schon sehr stressige Momente für uns», sagt Karin. «Für Aussenstehende ist das auch kaum nachvollziehbar, welche Belastung dies für eine Familie darstellt.»
Eine grosse Hilfe ist auch Alissas jüngere Schwester Joceline, die seit kurzem eine KV-Lehre begonnen hat. Sie wechselt ihrer Schwester oft die Windeln, hilft ihr beim Duschen, schaut mit ihr einen Film, spielt mit ihr auf dem iPad oder «chillt» mit ihr im riesigen, mit Tüchern und Fellen kuschelig eingepackten Schwimmring in der Stube. «Für mich ist der Alltag mit Alissa nichts Besonderes und halt einfach normal», lacht sie und fügt an: «Und klar, selbstverständlich kommen auch meine Kolleginnen und Kollegen zu mir nach Hause. Die kennen Alissa und haben mit ihr überhaupt keine Berührungsängste.»
Gemeinsame Ferien
Den Tag verbringt Alissa normalerweise in der «Tanne» im zürcherischen Albis, einer Schule und einem Kompetenzzentrum für Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichsten Formen von mehrfacher (Sinnes-)Behinderung. Dort lernt sie seit kurzem auch anhand einer speziellen Kommunikations-App auf ihrem iPad, einfache Dinge auszudrücken. Ab und zu verbringt sie dort auch ein Wochenende, um der Familie zu Hause Entlastung zu bieten. Gleichzeitig verbringt sie jede Woche im Rahmen einer Hippo-Therapie ein paar Stunden auf dem Pferderücken.
Die Familie selber schränkt sich trotz der mannigfaltigen Herausforderungen, welche die Krankheit mit sich bringt, im Alltag möglichst wenig ein – regelmässig gehen sie auswärts essen oder fahren gemeinsam ins Ausland in die Ferien, zuletzt auf die Insel Kos in Griechenland.
Wunderschöne Erinnerungen bleiben der Familie auch von Ferien auf der Sinai-Halbinsel in Ägypten, welche von der Big Dune Therapie Nuweiba organisiert wurde. Zusammen mit anderen betroffenen Familien profitierte da insbesondere Alissa, aber auch die ganze Familie, mehrere Stunden täglich von einer ganz besonderen Erlebnistherapie: Da durfte etwa zusammen mit Delfinen geschwommen oder auf Kamelrücken durch Sanddünen geritten werden. Nächstes Jahr dann ermöglicht der Förderverein Kinder mit seltenen Krankheiten Alissa und ihrer Familie eine Delfintherapie in Spanien.
Regelmässig gönnt sich die Familie auch einen Ausflug in den Europapark. Fällt dieses Wort, strahlt Alissa sofort übers ganze Gesicht. Die Besuche im Erlebnispark sind für sie immer wieder Highlights, insbesondere der Besuch der Achterbahn. «Da spürt sie sich selber sehr und zeigt dementsprechend ihre Freude», erzählt die Mutter.
Schwieriges Loslassen
Da Menschen mit dem Angelman-Syndrom lebenslang auf die Hilfe anderer angewiesen sind, stellt sich für die Familie in nächster Zeit die etwas bange und schwierige Frage, wo Alissa künftig leben wird. «Für das Loslassen und Loslösen ist es jedoch momentan noch etwas zu früh. Wir sind allerdings daran abzuklären, wo Alissa später leben könnte», sagt Sigi von Heyking. Und seine Ehefrau fügt lachend hinzu: «Zwar sagen wir nach jeden Ferien, dass es nun wirklich das letzte Mal war, dass wir zusammen mit Alissa in die Ferien gefahren sind, weil der damit einhergehende Stress und Aufwand einfach zu gross geworden ist. Doch wir werden wohl auch unsere nächsten Ferien alle zusammen verbringen.»
Weitere Informationen
Angelman Verein Schweiz: www.angelman.ch