An die Zeit vor seiner Diagnose? Raphaël schüttelt den Kopf. Daran erinnert er sich nicht mehr so recht. Der blonde Junge sitzt auf der kleinen Terrasse seines Elternhauses in Murten, vor sich ein Stück Nidelkuchen. «Er hat plötzlich extrem viel getrunken», springt sein Vater Remo ein. So viel, dass er ständig zur Toilette musste – und dies nachts auch mal nicht merkte. «Ah ja, das hat genervt», sagt nun Raphaël. Damals war er sieben. Jetzt blickt er auf den Kuchen. «Iss nur», sagt sein Vater. «Wir spritzen nachher.»

«Eigentlich war die Zeit im Spital noch schön»

Seit gut drei Jahren hat Raphaël Typ-1-Diabetes: Sein Körper produziert kein Insulin mehr. Das Hormon hilft, Zucker aus dem Essen in Energie umzuwandeln. Fehlt es, sammelt sich Zucker im Blut an – mit Folgen wie Durst, Müdigkeit, Sehstörungen bis hin zu Bewusstlosigkeit. Deshalb braucht der 10-Jährige regelmässig Insulin.

Zahlen bestimmen den Alltag
Drei Jahre. Raphaël überlegt. «Noch sieben, dann kann ich zehn Jahre Diabetes feiern.» So unbefangen er mit seiner Krankheit umgeht, so gern jongliert er mit Zahlen: «Mathi» sei sein Lieblingsfach. Ein Glück, denn Zahlen bestimmen seinen Alltag: Am rechten Oberarm, knapp unter dem Ärmel eines Snoopy-T-Shirts, klebt ein Sensor. «Der misst permanent den Blutzucker», erklärt Raphaëls Vater. Über eine App können Raphaël und seine Eltern den Wert im Auge behalten. Sinkt er zu tief – z. B. weil Raphaël im Verhältnis zum verabreichten Insulin zu wenig Kohlenhydrate isst oder sich körperlich sehr anstrengt – piepsen die Handys. Dann rufen schon mal beide Eltern in der Schule an, um sicherzugehen, dass ihr Sohn etwas Gezuckertes isst. «Tut er das nicht, könnte er bewusstlos werden – schlimmstenfalls sterben», sagt Remo.

Inzwischen hat Raphaël den Kuchen gegessen. Wie nebenbei hält er still, während sein Vater ihm mit einem Pen Insulin in den Oberschenkel spritzt – die passende Menge, damit sein kleiner Körper den Zucker des Kuchens verarbeiten kann. Etwa sechs Mal am Tag muss der Junge das über sich ergehen lassen. «Am Anfang hat das schon genervt, aber jetzt ist es nicht mehr schlimm.»

Massiv erhöhter Blutzucker
Den «Anfang», die Zeit rund um die Diagnose, hat er noch gut präsent. Wie er sofort ins Spital musste, als der Kinderarzt seinen massiv erhöhten Blutzuckerspiegel feststellte. Kurz verschwindet er nun und taucht mit einem hölzernen Schiff wieder auf: «Das habe ich im Spital gebaut.» Mit einem Freund durfte er es in einem Bächli in der Nähe ausprobieren. «Eigentlich war die Zeit im Spital noch schön.»

Sein Vater scrollt durch Fotos, zeigt Bilder eines jüngeren Raphaëls, der lächelnd im Spitalbett sitzt, neben sich den Infusionsständer. Zehn Tage musste er bleiben. «Er hat schon realisiert, was los ist», sagt Remo. Aber er habe es gut aufgenommen. «Im Gegensatz zu uns Eltern. Wenn sie dir beim ‹Stüpfen› sagen, dass sie nicht den Zeigefinger nehmen, weil dein Sohn ihn vielleicht mal zum Lesen von Blindenschrift braucht …» Da breche eine Welt zusammen.

Konstanter Blick auf die App
Zu erblinden ist eine mögliche Spätfolge eines schlecht eingestellten Diabetes. Auch Schäden an Organen könne es geben, so der Vater leiser, oder an Nerven. Vorbeugen könne man, indem der Blutzuckerwert möglichst selten vom Zielbereich abweiche.

Den Blick auf die App haben die Eltern längst verinnerlicht. Auch nachts: «Ist der Wert abends nicht gut, schläft man nicht.» Tagsüber kontrolliert Raphaël auch selbst. Traubenzucker hat er immer dabei, um einen fallenden «Spiegel» aufzufangen. Steigt dieser dagegen zu sehr an, braucht er Insulin. Inzwischen spritzt Raphaël sich dieses manchmal eigenhändig – nur die Dosis berechnen immer die Eltern. «Er ist erst zehn. Wir versuchen das noch von ihm fernzuhalten.»

Selbst entscheiden soll Raphaël aber auch, ob er bald auf eine Insulinpumpe umstellen will. «Die wäre am Bauch, gell?», fragt er. «Ja, doch du bist noch etwas zu mager», antwortet der Vater lachend. Er esse extra wenig, flüstert jetzt der kleine Junge. Weil die Pumpe via einen Katheter konstant Insulin abgäbe, müsste er zwar nicht mehr ständig spritzen. «Ein Freund von mir hat sie aber mal aus Versehen ‹abgschränzt›.»

«Wie da hineingewachsen»
Manchmal sei er schon etwas neidisch, weil andere sich solche Gedanken nicht machen müssen. «Doch ich bin da auch wie hineingewachsen.» In der Schule dürfe er jederzeit essen, das sei sonst im Unterricht «verboten». Nur zweimal, sagt sein Vater, habe Raphaël in den drei Jahren gesagt, er möge nicht mehr. «Er macht es wirklich gut.»

Nun aber muss Raphaël zum Klettern, seinem «zweitliebsten Hobby» – direkt nach dem Mountainbiken. Er holt sein Turnzeug. Da piepst plötzlich etwas laut. Remo zeigt sein Handy, auf dessen Display nun gross «LO» für «low» steht. «Trink Orangensaft!», ruft er Raphaël zu. «Jetzt spüre ich wieder so ein Zittern», sagt dieser. Einmal, da habe er sich ganz schwach gefühlt und fast nichts mehr gesehen. Jetzt jedoch geht es nach einigen Schlucken Saft besser, und er zieht los.

Man könne normal leben mit Diabetes, sagt Raphaëls Vater noch. «Wenn auch mit ständigem Blick auf die App.» Auf dem Display sieht er jetzt den Anruf seiner Frau. Auch sie habe es ja im Büro piepsen hören. «Wir rufen uns zur Sicherheit stets gegenseitig an.» Ja, man könne normal leben. Aber die Alarmbereitschaft sei immer da.