Seit 40 Jahren lebt Rainer Porschien (67) aus Rheinfelden mit Tinnitus. Zeitweise raubte ihm das lästige Pfeifen im Ohr die Kraft. Heute schätzt er es als Warnzeichen für ungesunden Stress.

Ein kleiner Kaktus mit angeklebten Bastelaugen steht auf Rainer Porschiens Fenstersims. «Er guckt mich an, sehen Sie?», sagt Porschien. «Drehe ich ihn aber um, wirkt er wie ein normaler Kaktus. Ich weiss zwar, dass er Augen hat, sehe sie aber nicht.» Auch im Leben helfe es, Dinge von verschiedenen Seiten zu betrachten – um sie anders wahrzunehmen. «Das gilt auch für meinen Tinnitus. Ich kann mich auf ihn konzentrieren oder ich kann im Wald dem Blätterrauschen lauschen.» Dass so ein Pfeifen im Ohr dennoch viel Kraft raubt, ja zermürbend sein kann, will der 67-Jährige nicht verneinen. Zu lang schon lebt er selbst damit. «Ich habe aber auch gelernt, dass man es ein Stück weit in derHand hat, wie viel Raum man ihm gibt.»

Ein schrilles Pfeifen, das blieb
Zunächst aber war es der Tinnitus, der vor 40 Jahren Platz in Porschiens Leben nahm. Damals war der gebürtige Lübecker ein junger Vater, arbeitete in einem Pflegejob, oft nachts, und studierte nebenbei. «Ich habe mich nicht
gestresst gefühlt, war aber wohl schon etwas belastet.» Der Hörsturz, der ihn daraufhin ereilte, erstaunt ihn aus heutiger Sicht nicht. Ob dieser nicht auch mit dem «ziemlichen Rumms» einer Fehlzündung an einem Panzer zusammenhing, einem Erlebnis, das er zuvor in der Armee gehabt hatte? Das lasse sich nicht genau sagen.

Zehn Tage verbrachte Porschien im Krankenhaus. Den Hörsturz konnte er «verdauen» – auch einen zweiten, ein Jahr später. Was blieb, war dieses schrille Pfeifen im Ohr: der Tinnitus. Der Begriff kommt vom lateinischen «tinnire», das «klingeln» heisst. Es «klingelt» also – oder pfeift, brummt, summt, zischt – im Ohr. Tut es dies über Monate oder kommt es immer wieder, spricht man von Tinnitus. Um die Ursachen abzuklären, sei der Besuch einer HNO-Praxis angezeigt, so Porschien. «Oft hat das Pfeifen mit dem Ohr aber nichts zu tun. Es ist eher die Wahrnehmung, die es nicht mehr schafft, quasi überflüssige Geräusche herauszufiltern.» Schätzungen zufolge haben zehn bis fünfzehn Prozent der Menschen einen sogenannt chronischen subjektiven Tinnitus. Nur drei bis fünf Prozent leiden allerdings darunter, wie Rainer Porschien.

Ein Zeichen, um zurückzuschalten
Ein hoher, schriller Ton sei es gewesen, mal mehr, mal weniger laut, aber auf die Dauer sehr unangenehm. «Man konzentriert sich ständig darauf, weil man sich wünscht, das Pfeifen ausschalten zu können.» Doch an den Ohren lasse sich halt nicht drehen – wie früher am Radio, um das Rauschen wegzubekommen. So fühlte er sich bald angespannt, nervöser als früher, ungeduldiger auch. Erst als er sich entschied, eine belastende Arbeitssituation zu beenden und für eine neue Stelle mit seiner Frau und den drei Töchtern von Lübeck nach Basel zu ziehen, wurde es besser. «Lustigerweise realisierte ich erst im Nachhinein, dass die Ohrgeräusche auf einmal weg waren.» Leider sollte es nicht dabei bleiben. Immer, wenn Porschien von nun an etwas zu viel wurde, er zu sehr unter negativem Stress stand, kam das Pfeifen wieder. «Doch lernte ich, es als wertvolles Zeichen meines Körpers anzunehmen und einen Gang zurückzuschalten. Tat ich dies, wurde es sofort besser.»

«Man konzentriert sich ständig darauf, weil man sich wünscht, das Pfeifen ausschalten zu können»

Ein Stress, der zehrte
Bis der Tinnitus sich vor wenigen Jahren mit voller Wucht zurückmeldete. Inzwischen arbeitete Porschien in einer medizinischen Notrufzentrale. Während acht Stunden am Tag bewältigte er 60–80 Anrufe. Dann kam die Pandemie und schlagartig waren es 120. Die Menschen am anderen Ende zudem oft gereizt. Es war ein Stress, der zehrte. Erst war das Pfeifen wieder da – nun als tieferer Zisch- oder Brummton –, dann erkrankte Porschien im Frühling 2021 an Corona.

Nur langsam kam er wieder auf die Beine. Doch was blieb, so laut wie nie zuvor, war wiederum sein Tinnitus. Das war so unerträglich, dass sich Porschien in eine Klinik einweisen liess. Dort erhielt er Massagen, Tier- und Musiktherapien, liess Wasser- und Blätterrauschen auf sich wirken, ebenso wie tiefenpsychologische Gespräche. «Gerade sie haben mir sehr geholfen.»

Dinge, die Spass machen
Heute hat er sich wieder erholt. «Nun, da ich über den Tinnitus rede, ist er zwar lauter.» Doch schaffe er es erneut besser, ihm nicht so viel Raum zu geben. Was dabei im Alltag am besten helfe, sei individuell. «Für die einen sind es Mozart und Tee, andere hassen Tee und hören lieber Heavy Metal.» Manche Betroffene gäben ihrem Tinnitus gar einen Namen. Sein Exemplar ist bis heute namenlos: «Ich will ihn nicht an mich binden. Er soll jederzeit gehen können.»

Bis dahin nutzt er ihn weiterhin als Zeichen, Belastendes weniger an sich heranzulassen, sich stattdessen zu entspannen. Das ist einfacher geworden: Porschien ist mittlerweile pensioniert. Als Präsident der Tinnitus-Liga und Leiter einer Selbsthilfegruppe, als Mitinhaber einer Firma und sechsfacher Grossvater hat er dennoch viel auf dem Programm. «Es sind aber alles Dinge, die mir Spass machen.»

Noch etwas bereitet ihm grosse Freude: Seemannslieder, sogenannte Shantys. Als Sänger im Basler Seemannschor Störtebekers muss er sich manchmal gar konzentrieren, um nicht vor Ergriffenheit zu weinen. Dass das Singen Vibrationen im ganzen Körper erzeugt und dabei die Ohrgeräusche in ihre Schranken verweist, ist ein willkommener Nebeneffekt. So wirkt es ein bisschen wie das Umdrehen des Kaktus auf dem Sims: Der Tinnitus ist trotz- dem da, wie die Bastelaugen. Porschien weiss das. Aber für einmal hört er ihn nicht.

MENSCHEN 02