Gewitter im Hirn
Rund 70‘000 Menschen leiden in der Schweiz unter Epilepsie. Eine von ihnen ist die 18-jährige Neira Heim, die sagt: «Noch immer ist diese Krankheit in der Öffentlichkeit mit viel zu vielen Tabus behaftet.»

Was hat sich die junge Frau aus dem Berner Oberland nicht schon alles wegen ihrer Krankheit anhören müssen. Etwa: Wenn du schon diese Krankheit hast, musst du jetzt unbedingt auch noch das Gymnasium machen? Oder: Können Menschen mit Epilepsie überhaupt sprechen und ist das ansteckend? Noch immer ist auch das Vorurteil weit verbreitet, Epilepsie sei eine Geisteskrankheit, was längst widerlegt ist.
Fakt ist: Epilepsie ist ein neurologisches Syndrom, bei dem Hirnzellen unkontrolliert Impulse an den Körper senden und diesen je nach Ausprägung wild zucken oder erstarren lassen. Heute kennt man rund 30 verschiedene Arten von Epilepsie. Fast alle rauben den Betroffenen sekunden- bis minutenlang das Bewusstsein und die Selbstkontrolle.
Keine seltene Krankheit
Und trotz dieser Tatsachen sagt Neira Heim: «Auch wenn Epilepsie beileibe keine seltene Krankheit ist, weiss man in der Öffentlichkeit noch viel zu wenig darüber, und noch weniger Menschen wissen, was damit verbunden ist.» Die 18-Jährige muss es wissen, leidet sie doch seit ihrem zehnten Lebensjahr an Epilepsie. «Ich war grad in der Schule, als ich meinen ersten Anfall hatte», erinnert sie sich. Und wie bei all den folgenden Anfällen seither fiel sie auch da von einem Moment auf den anderen in Ohnmacht, fing von Krämpfen geplagt an, zu zucken und wild um sich zu schlagen, erbrach sich.
Dem ersten Anfall folgte nach ein paar Monaten ein zweiter, und kurze Zeit später stand auch die definitive Diagnose Epilepsie fest. Obwohl sie selber damals als Kind noch wenig wusste, was diese Krankheit bedeutet und mit sich bringt, ahnten ihre Eltern umso mehr, was da auf ihre Tochter und die ganze Familie zukommen würde, war doch Neiras Vater zu dieser Zeit noch Chef-Chirurg am Spital Frutigen.
Epilepsie, Epi-Suisse und neues Zentrum
Epilepsie ist die häufigste chronische Krankheit des zentralen Nervensystems. In der Schweiz leben rund 70‘000 von Epilepsie betroffene Menschen, davon 15‘000 Kinder. Die Krankheit kann oft sehr gut medikamentös behandelt werden. In manchen schwierigen Fällen können jedoch nur epilepsiechirurgische Operationen am Gehirn durch Spezialisten helfen.
Epi-Suisse, der Schweizerische Verein für Epilepsie, kümmert sich um die psychosozialen Anliegen der Betroffenen. Der Verein bietet gesamtschweizerisch Selbsthilfegruppen und Beratungen an, organisiert Ferienwochen für Kinder und Erwachsene, Informationsveranstaltungen sowie Kurse und macht sich mit Publikationen und Öffentlichkeitsarbeit für die Betroffenen stark.
Im November 2015 fand das Gründungssymposium des neuen Zentrums für Epileptologie und Epilepsiechirurgie (ZEE) statt – eine Kooperation des Universitätsspitals Zürich (USZ), des Kinderspitals Zürich (Kispi) und der Schweizerischen Epilepsie-Klinik der Klinik Lengg (EPI). Das ZEE strebt die bestmögliche klinisch-epileptologische Versorgung der Betroffenen an, indem es den Zugang zu den Spezialisten und Spezialistinnen erleichtert. Das ZEE hat sich zudem die Intensivierung und bessere Vernetzung der epileptologischen Forschung auf dem Forschungsplatz Zürich und international zum Ziel gesetzt.
Ursache unbekannt
Was genau Neira Heims Epilepsie ausgelöst haben könnte, ist bis heute nicht genau eruierbar. Es könnte die Spätfolge eines Autounfalls gewesen sein, in den die Familie samt Neira involviert war. Damals war sie zwei Jahre alt und erlitt einen Schädelbruch. Ebenfalls stürzte sie ein paar Monate vor ihrem ersten Anfall mit dem Snowboard und schlug dabei zweimal mit dem Kopf auf den Boden.
In den darauffolgenden Jahren hatte Neira Heim bis zu 15 Epilepsie-Anfälle pro Jahr, was ihren Alltag einschneidend beeinflusste: «Plötzlich durfte ich unter anderem nicht mehr alleine unterwegs sein.» Darüber hinaus rieten ihr die Spezialisten, alles zu unterlassen, bei dem eine grosse Gefahr besteht, sich zu verletzen, etwa das Snowboarden, Velofahren oder auch – wegen der Ohnmachtsgefahr – das Schwimmen.
Auch vom Reiten, schon damals das grosse Hobby von Neira, mit dem sie jede freie Minute verbrachte, rieten ihr die Ärzte ab. Doch ohne ihre geliebten Vierbeiner Lucco, Emma, Fanya und Cisko ihre Tage zu verbringen, das ging irgendwie doch nicht, war gar unvorstellbar. Deshalb entschied sich Neira zusammen mit ihren Eltern, dennoch weiterzureiten – natürlich mit den entsprechenden Vorsichtsmassnahmen. So ist sie, sobald sie auf einem Pferd sitzt, immer unter Beobachtung einer Begleitperson – sei dies im Stall, auf der Koppel oder während eines Wettkampfs.
Sport ist möglich
Auch die Matura hat Neira Heim mit viel Willen und Durchhaltevermögen vergangenen Sommer bestanden und dabei ihre Krankheit und ihre Liebe zum Sport auch gleich zum Thema ihrer Maturaarbeit «Leistungssport und Epilepsie – Ein Widerspruch?» gemacht.
Bei ihrer Umfrage, welche sie zu diesem Thema mit Spitzensportlern aus der Schweiz und dem Ausland durchführte, kam unter anderem heraus, dass Spitzensport durchaus möglich ist. Dass es risikoreichere Sportarten als andere gibt, ist klar. Dass Epilepsie-Anfälle während der Ausübung des Sports aber äusserst selten sind, erfuhr Neira von befragten Fachärzten.
Dies dürfte auf die Epilepsie-Forschung sowie die verbesserten medikamentösen Behandlungsmethoden zurückzuführen sein. Auch bei Neira Heim scheinen die regelmässig durchgeführten Gehirnuntersuchungen mit Elektroenzephalografie (EEG), die Bluttests und die Medikamente – sie hat viele verschiedene in unterschiedlichen Dosen ausprobiert – Wirkung zu zeigen. «Seit Herbst 2014 habe ich keinen Anfall mehr gehabt», sagt sie. Zwar haben die Medikamente Nebenwirkungen wie Müdigkeit und erhöhten Appetit, «doch ich habe mit einem strukturierten Alltag gelernt, damit umzugehen.»
Rosige Zukunft
Sowieso ist die junge Frau aus dem Berner Oberland voller Zukunftspläne: Während des jetzigen Zwischenjahres beschäftigt sie sich voll und ganz mit ihren Ponys und ihrem Pferd, bevor sie dann nächsten Sommer eine Lehre als Pferdefachfrau beginnen wird. Verbringt sie auch die nächsten Monate anfallsfrei, darf sie nächstens gar die Fahrausweis-Prüfung in Angriff nehmen. «Doch vor allem», sagt Neira Heim mit leuchtenden Augen, «möchte ich einfach Zeit mit meinen Tieren verbringen und eines Tages einen eigenen Stall besitzen. Denn Reiten ist mein Glück.»
Anmerkung der Redaktion: Neira Heim teilte uns kurze Zeit nach dem Interview leider mit, dass ihre Krankheit zurückschlug. Nach 15 Monaten Anfallsfreiheit erlitt sie Ende Dezember 2015 zwei Grand-Mal-Anfälle. Die Gründe dafür sind unbekannt, jedoch zeigt dies, wie unberechenbar die Epilepsie sein kann.
Weitere Informationen
Epi-Suisse, Schweizerischer Verein für Epilepsie: www.epi-suisse.ch
Schweizer Epilepsie-Stiftung: www.swissepi.ch