Fehlende Worte – ausgelassene Freude
Lange wusste niemand genau, was Flavio hat. Erst die Diagnose des äusserst seltenen Pitt-Hopkins-Syndroms brachte den Eltern Gewissheit und Entspannung.

Ein sonniger Morgen in der Nähe von Thun. Mit einem fröhlichen Lachen, begleitet von einem «gwundrigen» und offenen Blick, begrüsst der neunjährige Flavio den Besucher vor dem Hauseingang. Sofort versucht der Bub mit Gebärden und unter freudigem Hüpfen, dem Fremden etwas mitzuteilen. Als dieser nicht gleich versteht, packt ihn der Bub entschlossen an der Hand, weist auf den Parkplatz vor dem Haus und sagt «Papa», worauf seine Mutter zu ihm sagt: «Ja gell, jetzt kommt dann grad der Papa mit dem Auto.»
Wegen seiner fehlenden Fähigkeit, Laute auszusprechen, ist «Papa» – neben «jäh» für «ja» und «hiä» für «hier» – nur eines von drei Wörtern, die Flavio aussprechen kann. Deshalb erlernt er seit einigen Jahren und in jüngster Zeit mit grossem Fortschritt eine spezielle Gebärdensprache (nach Anita Portmann), bei der grosszügige Hand- und Armbewegungen im Vordergrund stehen, weil feinmotorisch anspruchsvolle Kleinbewegungen Flavio überfordern.
Zeit der Ungewissheit
Flavio hat das Pitt-Hopkins-Syndrom – ein Gendefekt auf dem 18. Chromosom, der unter anderem einhergeht mit geistiger Behinderung, Atemregulationsstörungen oder eben fehlender Lautsprache. Es ist eine äusserst seltene Krankheit: Weltweit sind mit dieser Diagnose rund 350 Menschen – und in der Schweiz gerade mal acht – bekannt.
Lange wussten Sandra und Martin Huber nicht, was genau mit ihrem Kind los ist. «Kurz nach der Geburt merkten wir einzig, dass Flavio einen steifen Daumen hatte, was wir aber nicht beunruhigend fanden», erinnert sich Sandra Huber.
Die Zweifel, dass etwas mit ihrem Buben trotz seiner angeborenen Fröhlichkeit nicht stimmt, verdichteten sich erst in den kommenden Monaten: Flavio begann stark zu schielen, war krankheitsanfällig, entwickelte eine starke Dermatitis und erkrankte mit zehn Monaten schliesslich an einer schweren Pneumokokkensepsis, die er dank notfallmässiger Einlieferung ins Spital knapp überlebte, die jedoch sein Sehvermögen stark beeinträchtigte.
Pitt-Hopkins-Syndrom
Das Krankheitsbild des Pitt-Hopkins-Syndroms (PTHS) wurde erstmals im Jahr 1978 von den Medizinern Pitt und Hopkins beschrieben. Doch erst 2007 wurde das verantwortliche Gen entdeckt, das zu dieser seltenen genetischen Erkrankung führt.
Die Ursachen des PTHS sind Mutationen im TCF4-Gen, das auf dem Chromosom 18 liegt: Entweder kommt es zu einer kompletten Streichung des TCF4-Gens oder zu einer Mutation in einem der Exons 1–20. Die Hauptmerkmale der Krankheit sind geistige Behinderung, Atemregulationsstörungen, Epilepsie und eine schlechte bis fehlende Entwicklung der Lautsprache. Ausserdem zeigen viele Personen mit dem PTHS ein ähnliches Aussehen. Das Syndrom ist bei jeder betroffenen Person anders ausgeprägt. Daher ist es schwierig vorauszusagen, wie die Entwicklung verlaufen wird. Gesichert ist jedoch, dass die Krankheit keinen progredienten (fortschreitenden) Verlauf nimmt.
Schlafstörungen
Was folgte, war eine für die junge Familie – zu der auch Oliver, der zwei Jahre ältere Bruder von Flavio, gehört – sehr belastende Zeit verschiedenster Diagnosen, die das Familienleben auf den Kopf stellten: allgemeiner Entwicklungsrückstand unklarer Herkunft, Mikrozephalie, Muskelschwäche, Atemregulationsstörungen, Hyperventilierungsepisoden, Stereotypien, Hyperaktivität, um nur einige zu nennen.
Hinzu kam anderthalb Jahre lang eine schwere Schlafstörung, während der nicht nur Flavio die Nächte durchweinte, sondern auch die Eltern, besorgt wach gehalten, entsprechend an die Grenzen ihrer Kräfte kamen.
Eine erste Entspannung stellte sich erst ein, als ihnen bei ihrer Internetrecherche jemand riet, Flavios Schlafstörungen mit dem damals in der Schweiz noch nicht zugelassenen Medikament Melatonin zu therapieren. Und siehe da: Flavio sprach darauf an und konnte – genauso wie seine Eltern – dadurch plötzlich durchschlafen.
Endlich eine Diagnose
Als Flavio vier Jahre alt war, wurde bei ihm das Pitt-Hopkins-Syndrom diagnostiziert. Dies bedeutete für die ganze Familie eine grosse Entlastung und Erleichterung. «Es war das Ende einer Suche», sagt Sandra Huber. Seitdem macht nicht nur Flavio in verschiedenster Hinsicht laufend Fortschritte, sondern «normalisierte» sich trotz weiterhin vieler täglicher Herausforderungen auch das Familienleben der Hubers zusehends. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Flavio eine heilpädagogische Schule besucht und gleichzeitig in seinem älteren Bruder Oliver einen starken und geduldigen Verbündeten weiss. Der Zwölfjährige springt mit seinem kleinen Bruder nicht nur oft auf dem Trampolin oder spielt mit ihm Fussball, er weiss auch oft noch vor seinen Eltern, was genau Flavio sagen möchte.
Und seit Oliver in seiner Klasse einen Vortrag über das Pitt-Hopkins-Syndrom gehalten hat, wissen auch seine Klassenkameraden mehr über diese sehr seltene Krankheit und haben gleichzeitig Flavio ins Herz geschlossen. Denn dieser begleitete seinen grossen Bruder ins Klassenzimmer und zeigte dessen Schulkameraden vor Ort, wie er auf seinem Kommunikationsgerät mittels Tastenfunktion mit Piktogrammen kommuniziert.
Eine Bereicherung
Das Wissen um das Pitt-Hopkins-Syndrom verbreiten Sandra und Martin Huber auch über die von ihnen aufgebaute und betreute Website. Wichtig ist ihnen dabei nicht nur, Betroffenen und insbesondere Eltern weiterzuhelfen und eine Wissensplattform zu schaffen, sondern auch, eine Gewissheit weiterzuvermitteln, die ihnen Flavio geschenkt hat: «Wir möchten Flavio nicht anders, als er ist. Er bereichert unser Leben, und seine grenzenlose Freude an kleinen Dingen zeigt uns immer wieder Tatsachen auf, die wir normalen Menschen längst vergessen haben.»
Weitere Informationen
Private Website mit Informationen zum Pitt-Hopkins-Syndrom: www.pitthopkins.ch