Eine Kämpferin trotz allem
Allein die Tatsache, dass Seraina bereits vor ihrer Geburt einen Schlaganfall erlitt, ist aussergewöhnlich. Später fand man heraus, dass das aufgeweckte Mädchen zudem am äusserst seltenen Marfan-Syndrom leidet.

«Wir haben Glück», begrüsst Petra Ganter die Besucher an diesem freundlichen Frühlingsnachmittag an der Tür ihres Eigenheims in der Nähe von Zürich, «für Seraina ist es heute ein guter Tag, es geht ihr erfreulich gut.» Dass dies nicht selbstverständlich ist – in letzter Zeit gar eher die Ausnahme war – und welche riesigen Herausforderungen im Alltag damit verbunden sind, wird erst später klar.
Alles ein bisschen komplizierter
Vorerst lacht die 10-jährige Seraina verschmitzt vor sich hin, gibt sich etwas schüchtern und lässt lieber ihre Mutter und ihre beiden grösseren Geschwister, die 12-jährige Ladina und den 15-jährigen Gian, erzählen. Etwa davon, dass sie sich vergangenen November ihren linken Fuss operieren lassen musste, weil er sich zu einer Fehlstellung entwickelte. Bevor sie wieder nach Hause zurückkehren konnte, verbrachte sie bis Ende Januar drei Monate in der Rehabilitationsklinik, wo sie sich nur im Rollstuhl bewegen konnte. Dass ihr der operierte Fuss noch immer Schmerzen bereitet, ist das eine; das andere, dass er wieder geschwollen ist und damit nicht in ihre Orthese (orthopädische Beinschiene) passt, was sie wiederum ans Haus fesselt. Doch die Fussoperation ist nur eines von vielen Hindernissen und Krankheitskapiteln in ihrem Leben. Dass für sie alles ein bisschen komplizierter ist und der Alltag sich aufwendiger gestaltet als für viele andere, weiss Seraina seit jeher. Doch der Reihe nach, denn angefangen hat alles viel früher, nämlich noch bevor Seraina überhaupt auf die Welt kam.
Problemlose Geburt
«Die Geburt verlief problemlos», erinnert sich Petra Ganter. Doch als das Kind nach drei Monaten noch immer seinen Kopf nicht heben konnte und auch die linke Hand nicht benutzte, entschlossen sich Petra und ihr Mann Yven Ganter, den Hausarzt zu konsultieren. Dieser leitete sie direkt ins Kinderspital zur genaueren Untersuchung (MRI) weiter. Dabei fand man heraus, dass Seraina noch im Mutterbauch einen Hirnschlag erlitten hatte, wodurch ihre linke Körperhälfte teilweise schlaff bleibt und ihre Bewegungen behindert. Als die Eltern den ersten Schock dieser Diagnose einigermassen verdaut hatten, stellten sie bald fest, dass etwas mit Serainas Augen nicht stimmen konnte. Die Iris zitterte auffällig oft. «Wenn ich in den Spiegel schaue, merke ich selbst auch, dass da etwas komisch ist», erzählt Seraina. So wurden ihr dann nach vielen weiteren Untersuchungen als 2-Jährige an beiden Augen die Linsen und Linsensäcke herausoperiert und bis heute nicht wieder ersetzt. Und wenig später, als sich das Kleinkind noch immer nicht auf eigenen Beinen bewegen konnte, erhielt es Beinschienen, mit denen es sich fortbewegen lernte. Doch noch immer wussten die Ärzte nicht genau, was das Kind hatte, und konnten aufgrund der Symptome keine genaue Diagnose stellen.
Das Marfan-Syndrom
Beim Marfan-Syndrom (MFS) handelt es sich um eine genetisch bedingte Bindegewebserkrankung, welche mit einer Häufigkeit von 1:10'000 auftritt. Das Syndrom wurde erstmals unter wissenschaftlichen. Gesichtspunkten 1896 vom französischen Kinderarzt Antoine Marfan beschrieben. In jeder menschlichen Zelle befindet sich der Bauplan des Menschen in Form von Genen. Ist nur eines dieser Gene verändert oder fehlt es, wirkt sich das auf den ganzen Organismus aus. Das Fibrillin-1-Gen trägt den Bauplan für Fibrillin, einem wichtigen Element unseres Bindegewebes, welches ein zentraler Bestandteil von Blutgefässen, Knochen, Muskeln und Bändern, den Augen und der Haut ist. Durch das Marfan-Syndrom kann das Bindegewebe seine Stützt und Stabilisierungsfunktion nur noch ungenügend wahrnehmen. Den meisten Betroffenen ist ein typisches körperliches Erscheinungsbild mit langen, schmalen Gliedern gemein, es können jedoch auch Herz- und Gefässsystem, Augen, das Skelettsystem oder innere Organe beeinträchtigt sein. Die Krankheit ist nicht heilbar.
Endlich eine Diagnose
Die Ärzte vermuteten zwar schon relativ früh, dass Serainas Symptome auf das äusserst seltene Marfan-Syndrom hinwiesen – eine systemische Erkrankung des Bindegewebes mit Auswirkungen auf Herz, Kreislauf, Muskeln, Skelett, Augen und Lunge. «Doch Krankenkasse und IV schoben unser Dossier über die nächsten vier Jahre hin und her, weil die Finanzierung der dafür nötigen Gentests weder von den einen noch von den anderen übernommen werden wollte», erinnert sich Petra Ganter. Der Gentest kam dann aber doch noch im Rahmen einer Studie zustande, sodass die Diagnose im Herbst 2015 endlich gesichert feststand. «Für uns hatte die Krankheit damit einen Namen, aber mehr auch nicht. Wenigstens wussten wir nun, worauf man achten musste. Andererseits nützte es in dem Sinn auch nicht viel, weil kein anderer Fall der Kombination von Marfan-Syndrom und Hemiparese (Halbseitenlähmung) bekannt ist», sagt Petra Ganter.
Ein bisschen Mobilität
Nachdem Seraina den Kindergarten und die ersten drei Klassen in der regulären Primarschule besucht hatte, geht sie seit vergangenem Sommer nun in eine Sehbehindertenschule, da sie auch mit Brille nur rund 60 Prozent sieht. Ihre Sehbehinderung war auch der Grund, weshalb sie sich einmal den Arm brach, weil sie Treppenstufen nicht klar einschätzen konnte. Sowieso, der Bewegungsdrang ist für das Mädchen eine riesige Herausforderung: «Ich möchte einfach alles machen können, was meine Schwester und mein Bruder machen: Skifahren, Inlineskaten oder Velofahren.» Dass dies trotz ihrem starken Willen manchmal nicht möglich ist, ist ihr mittlerweile bewusst. Dennoch unternimmt die sportliche Familie insbesondere mit dem eigenen Mobilhome viele Ausflüge, und Seraina besitzt seit Kurzem gar ein eigenes Trottinett mit grossen Rädern, mit dem das unternehmungslustige Mädchen nun kürzere Strecken fahren kann und welches ihm eine gewisse Mobilität schenkt.
Spontane Stimmungsschwankungen
An guten Tagen ist die 10-Jährige gut zu Fuss, kann sich einigermassen schmerzfrei bewegen und empfindet auch ihre Sehbeeinträchtigung als unproblematisch. An schlechten Tagen jedoch, erzählt ihre Mutter, sei alles anders. Die Gelenke überdehnen, was zu starken Schmerzen führen kann. Die Muskeln werden überstrapaziert, Stress und Aufregung belasten die Aorta. Oft kommen die Schmerzen nicht von einem Tag auf den anderen, sondern von einer Minute auf die andere. Dann kippt die Stimmung schlagartig – denn nicht nur Stress und Ärger, sondern auch Freude und Aufregung müssen dosiert werden, um Aorta und Herz nicht zu überanstrengen. So ist es für die ganze Familie eine ständige Gratwanderung und Herausforderung, die richtige Mischung bei jeglichen Aktivitäten zu finden und zugleich parat zu sein für spontane Stimmungsänderungen. «Gleichzeitig geht es ja auch darum, dass die beiden älteren Kinder nicht unter die Räder kommen, steht doch Seraina oft im Fokus der Familie», erzählt Petra Ganter. «Es ist ein ständiges Auf und Ab. Wenn es gut geht, unternehmen wir alle zusammen etwas und geniessen das Familienleben. Wenn es nicht gut geht, machen wir eben einzeln etwas.»
Geforderte Flexibilität
Neben den vielen regelmässigen Therapien, Kontrollen und weiteren Untersuchungen tauscht sich Petra Ganter mittlerweile auch mit anderen Marfan-Betroffenen hauptsächlich über Facebook aus. Gleichzeitig hat sie gelernt, einen Tag nach dem anderen anzugehen: «Genau wie heute: Eigentlich hätte Seraina zur Schule gehen sollen, doch da sie mit dem geschwollenen Fuss nicht in ihre Gehhilfe kommt, bleibt sie halt zu Hause.» Dass die Flexibilität von Seraina und ihrer Familie auch weiterhin auf eine harte Probe gestellt wird, zeigte sich nach dem Besuch bei ihr. Die ganze folgende Nacht hindurch hatte Seraina so starke Schmerzen in ihrem Fuss, dass ihre Mutter sie anderntags nach telefonischen Abklärungen bei Ärzten in den dermatologischen Notfall und danach ins Kinderspital bringen musste. Die Untersuchungen lassen die Ärzte vermuten, dass Seraina an der äusserst schmerzhaften Erkrankung Morbus Sudeck leidet und daher in Kürze bei ihrem Fussspezialisten in Chur genauer untersucht werden soll.