Die 13-jährige Livia verbringt die meiste Zeit des Tages im Rollstuhl. Trotz aller Einschränkungen, die ihre körperliche Beeinträchtigung aufgrund der Cerebralparese mit sich bringt, ist die junge Ostschweizerin glücklich mit ihrem Leben. Ein Porträt.

Ein möglichst unabhängiges, selbstbestimmtes Leben in einer kleinen WG führen: Das ist Livias grösster Wunsch. Darauf arbeitet die Jugendliche tagtäglich mit unermüdlichem Willen und Fleiss hin. Denn alltägliche Tätigkeiten wie etwa Anziehen, Einkaufen und Kochen fordern Livia immer wieder aufs Neue: Seit ihrer Geburt leidet sie an Cerebralparese (CP), einer Bewegungsstörung, deren Ursache in einer frühkindlichen Hirnschädigung liegt. Oder um es in ihren eigenen Worten zu sagen: «Die Leitung zwischen dem Gehirn und den Armen und Beinen funktioniert bei mir nicht richtig.»

Neben Bewegungsstörungen können bei einer Cerebralparese auch Kommunikations- oder Entwicklungsstörungen sowie geistige Beeinträchtigungen und Epilepsien entstehen. Dies ist abhängig davon, welche Hirnareale von der Schädigung betroffen sind. Eine Cerebralparese ist der häufigste Grund für eine motorische Behinderung im Kindesalter, jedoch mit vorgeburtlichen Untersuchungen nicht erkennbar. In der Schweiz leben aktuell etwa 3000 Kinder und Jugendliche und 12’000 Erwachsene mit einer Cerebralparese.

Fordern, aber nicht überfordern

Livia besucht die CP-Schule in St. Gallen – eine Tagesschule für junge Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung. Dort stehen neben den üblichen Fächern auch Ergo und Physiotherapie auf dem Stundenplan. Letztere sind besonders wichtig, um die Bewegungsfähigkeit möglichst zu erhalten. Die Inhalte der einzelnen Fächer werden individuell auf die Schülerinnen und Schüler und deren Möglichkeiten angepasst – mit dem Ziel, sie zu fordern, aber nicht zu überfordern. Besonders gerne hat Livia die Fächer Deutsch und Gestalten, aber auch Mathematik – ihr ehemaliges «Hassfach» – bereitet der Jugendlichen mittlerweile Freude: «Das liegt an den Lehrern der CP-Schule, die sind tipptopp.»

«Die Leitung zwischen dem Gehirn und den Armen und Beinen funktioniert bei mir nicht richtig»
Livia

Einmal pro Woche übernachtet sie zudem in einer Wohngruppe, die ebenfalls der CP-Schule angehört. Dort erhalten die Jugendlichen die Möglichkeit, selbstständig Alltagsaktivitäten wie Körperpflege, Haushalten oder Zugfahren zu trainieren mit dem Ziel, später einmal den Alltag möglichst eigenständig bestreiten zu können. Aber auch der Austausch untereinander kommt nicht zu kurz, was Livia sehr schätzt: «Die anderen Jugendlichen dort haben dieselben oder ähnliche Probleme wie ich und es tut mir gut, mich mit anderen Betroffenen auszutauschen.» Zudem bietet ihr der Aufenthalt in der Wohngruppe eine willkommene Abwechslung zum Alltag zu Hause, wo sie aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigung immer auf die Hilfe ihrer Familie angewiesen ist. Denn auch wenn sie ihrer Familie sehr dankbar ist für deren Unterstützung, ist da doch der Wunsch nach mehr Unabhängigkeit – wie bei anderen Jugendlichen in ihrem Alter auch. So gibt Livia offen zu: «Ich finde es cool, auch mal von zu Hause weg zu sein.» Entlastet wird die Familie zweimal wöchentlich von der Kinderspitex Ostschweiz. Die Mitarbeiterinnen helfen Livia beim Aufstehen und bei der Morgentoilette sowie beim Anziehen. «Sie nehmen sich viel Zeit für mich und lassen mich vieles alleine machen, das gefällt mir besonders», erzählt Livia strahlend.

Immer in Bewegung

Livia ist ein Energiebündel: «Zu Hause rumsitzen ist nicht meins, bei mir muss immer etwas los sein.» So erstaunt es auch nicht, dass Livia viele Hobbys hat. Eines davon ist die Hippotherapie. «Meine Schulkollegen beneiden mich immer darum, weil ich als Therapie reiten darf», erzählt die Tierliebhaberin stolz. Während der Therapie sitzt Livia auf einem Islandpferd, das im Schritt herumgeführt wird. Durch die rhythmischen Bewegungen des Pferderückens werden gleichzeitig Gleichgewicht, Haltungsreaktionen des Rumpfes und die Koordination geschult, die schwache Muskulatur gekräftigt, aber auch Verspannungen gelöst.

Zu Hause beschäftigt sich Livia zudem viel und gerne mit Familienhund Leo und Kater Filou. Und sie liebt es, zu
singen und zu kochen, «am liebsten Eigenkreationen». Neuerdings darf sie zudem – wenn der geplante Ausflug denn rollstuhltauglich ist – auch aktiv beim örtlichen Cevi mitmachen. Für Livia eine willkommene Abwechslung zum Alltag in der CP-Schule: «Ich geniesse es, auch einmal unbeschwert mit Gleichaltrigen ohne körperliche Einschränkungen etwas unternehmen zu können.» Möglich machen dies die «tollen und lässigen Betreuerinnen und Betreuer des Cevi». Denn wenn die junge Ostschweizerin etwas unternehmen will, bringt das immer einen grossen Aufwand mit sich. Sie benötigt beispielsweise jemanden, der sie in den Rollstuhl setzt, aufs WC bringt und ihr hilft, von A nach B zu gelangen. Entsprechend müssen die meisten Ausflüge und Aktivitäten akribisch im Voraus geplant werden. Obwohl Livia es nicht anders kennt, nervt sie sich trotzdem ab und zu darüber: «Ich finde es manchmal schon gemein, dass mein Bruder sich einfach spontan mit Freunden verabreden oder einen Ausflug machen kann und ich nicht.»

Fokus auf das Positive

Dennoch kann Livia ihrer körperlichen Beeinträchtigung trotz der Einschränkungen viel Positives abgewinnen. Schliesslich könne sie dadurch Erfahrungen sammeln, die ohne die Cerebralparese vielleicht so nicht möglich wären, so die Ostschweizerin. Einmal durfte sie beispielsweise bei einem Motorrad im Seitenwagen mitfahren. Ein Erlebnis, an das sie sich immer wieder gerne erinnert, insbesondere weil es speziell für sie arrangiert wurde. Während sie davon erzählt, spürt man die Freude darüber förmlich.

Später möchte Livia einmal «das KV machen», am liebsten bei einer Firma mit möglichst viel Kundenkontakt. Denn sie liebt es, sich mit anderen Leuten auszutauschen und zu unterhalten. Auch über ihre körperliche Beeinträchtigung spricht sie gerne offen: «Ich mag es nicht, wenn die Leute hinter meinem Rücken über mich tuscheln. Sie sollen mich einfach direkt ansprechen, wenn sie mehr über mich oder meine Beeinträchtigung wissen wollen.» Denn für sie ist absolut nichts Schlimmes dabei, im Rollstuhl zu sein. «Ich finde, man sollte jedem Menschen eine Chance geben, denn jeder hat es verdient, in der Gesellschaft einen Platz zu haben.»