APROPOS Ausgabe 4/20 -
«Gesundheit ist keine Frage des Alters»

Frau Degiacomi, wie hat sich die rheumatische Erkrankung bei Ihnen als Jugendliche erstmals bemerkbar gemacht?
Ich war 2002 mit meinen Eltern und meiner Schwester in den Sportferien, als ich merkte, dass etwas nicht stimmt. Ich hatte plötzlich schmerzende, rote Knie und Hände. Ausserdem waren morgens meine Glieder ganz steif und ich fühlte mich extrem kraftlos. Um die Augen hatte ich braune Ringe, fast wie ein Waschbär, und meine Haut war sehr empfindlich. Das wurde immer schlimmer. Meine Beine fühlten sich wie aus Blei an, und es war fast unmöglich, die Arme über die Schultern zu heben, beispielsweise zum Haarebürsten. Meine Eltern gingen mit mir zum Kinderarzt und ich wurde sofort für verschiedene Untersuchungen ins Kinderspital geschickt. Ich bekam dann aber relativ rasch die Diagnose juvenile Dermatomyositis. Dabei handelt es sich um eine Krankheit, bei der sich Blutgefässe in Haut und Muskeln entzünden. Am Anfang wurde ich mit den gängigen Medikamenten und Schmerzmitteln behandelt, die aber nicht halfen. Bald schon bekam ich Immunglobin und sehr hohe Dosen Kortison verabreicht. Das machte mich auch sehr müde. Zum Glück war mein Elternhaus in der Nähe der Schule, ich konnte also über Mittag nach Hause gehen und mich hinlegen. Irgendwann schienen die Medikamente gut eingestellt, ich konnte die Schule beenden und sogar eine Lehre in einem Reisebüro sowie das Studium in Sozialer Arbeit absolvieren. Aber die Krankheit zeigte sich immer wieder in verschiedenen Schüben. Oft wurde es im Herbst und Winter schlimmer, und ich musste wieder mehr Kortison oder andere Medikamente nehmen.
Die meisten stellen sich unter Rheuma eine «Alte-Leute-Krankheit» vor – Sie aber sind jung und stehen mitten im Leben. Kämpfen Sie mit Vorurteilen?
Sicher bis Mitte 20 und darüber hinaus stiess ich auf relativ wenig Verständnis. Ich weiss noch, dass ich für mein Studium meine Biographie aufschreiben musste und dann darauf die Rückmeldung erhielt, ich habe ja «gar nie richtig rebelliert» als Jugendliche. Dafür hatte ich ja gar keine Zeit! Noch heute werde ich oft komisch angeschaut, nach dem Motto: Aber du bist doch noch so jung! Ich muss dann immer lachen, weil Gesundheit doch keine Frage des Alters ist. Aber viele Menschen stellen sich unter Rheuma diese typischen Altersgebrechen vor; das ist in den Köpfen so verankert. Dabei laufen viele ernsthafte und schwerwiegende Krankheiten unter dem Überbegriff Rheuma. Aufklärungsarbeit ist deshalb extrem wichtig.
Wie leben Sie heute mit der Krankheit? Was tut Ihnen gut und hilft Ihnen, Ihren Alltag zu meistern?
Seit ca. einem Jahr nehme ich andere Medikamente, die so weit gut anschlagen. Ich kann mich an kein anderes Jahr erinnern, in dem ich so wenig Krankheitsaktivität hatte. Aber natürlich wird die Krankheit immer eine Einschränkung bleiben. Es gibt immer noch Tage, da sind so einfache Dinge wie ein Glas halten oder etwas schneiden eine riesige Herausforderung. Ich habe vor fünf Jahren angefangen, nur noch aus Plastikbechern zu trinken, weil mir gerade am Morgen dauernd Dinge aus den Händen gefallen sind. Jetzt stehen bei mir zuhause halt diese Kinderbecher mit herzigen Bildern darauf (lacht). Wenn es mir schlechter geht und ich mich nicht bewegen kann, dann ist das Malen mein Ventil, und ich stricke und meditiere auch oft. Wenn es mir gut geht, bewege ich mich gerne. Eine Weile ging ich regelmässig ins Fitnessstudio aufs Laufband sowie in die Gruppenlektion vom Yoga, aber jetzt mit dem Coronavirus mache ich lieber Yoga oder Krafttraining zuhause. Durch meine Krankheit gehöre ich zur Risikogruppe und bin diesbezüglich lieber vorsichtig. In diesem Jahr konnte ich glücklicherweise während des Lockdowns von zuhause aus arbeiten.
Sie haben sich für den Beruf der Sozialarbeiterin entschieden – was gefällt Ihnen daran?
Ich war schon immer auf der Suche nach einer sinnstiftenden Arbeit. Durch meine Krankheit weiss ich gut, wie es ist, wenn man sich mal alleine fühlt. Für andere dasein, das hat meine Motivation extrem gestärkt. Vor gut einem Jahr habe ich meine jetzige Stelle gefunden und bin damit sehr zufrieden. Ich arbeite Teilzeit, drei Tage die Woche, und mein Arbeitgeber weiss über meine gesundheitliche Situation Bescheid. Davor war meine berufliche Situation lange schwierig, weil ich krankheitsbedingt halt auch fehlen musste.
Was empfehlen Sie anderen Betroffenen?
Gerade als junge Person sollte man sich nicht mit gesunden Gleichaltrigen vergleichen. Ich habe das lange und immer wieder gemacht und mich dabei nur schlecht gefühlt. Heute konzentriere ich mich lieber auf mich selber und freue mich über kleine Verbesserungen.
Was können Freundinnen und Freunde, Arbeitskolleginnen und -kollegen oder Angehörige von Betroffenen tun, um diese zu unterstützen?
Sie sollten unbedingt nachfragen, wenn sie etwas nicht verstehen – das ist auf jeden Fall besser, als Annahmen zu treffen. Natürlich ist es sinnvoll, gerade in schwierigeren Zeiten Hilfe anzubieten und Verständnis zu zeigen, aber ansonsten sollte das Umfeld so normal wie möglich mit der Person umgehen. Das Thema Gesundheit wird immer so schwarz-weiss behandelt: Entweder ist man krank oder gesund. Aber jeder hat doch irgendwie etwas – einer vielleicht etwas offensichtlicher als der andere.