Die Gendermedizin will alle Eigenheiten der Geschlechter in der medizinischen Behandlung berücksichtigen. Denn Männer und Frauen benötigen zum Teil unterschiedliche medizinische Versorgung.

Frauen und Männer sind verschieden – auch was das Kranksein betrifft. So bekommen Frauen und Männer unterschiedlich oft bestimmte Krankheiten, leiden anders und sollten – je nachdem – gegen ein und dieselbe Krankheit besser unterschiedliche Medikamente einnehmen. Mit diesen medizinischen Unterschieden bei den Geschlechtern befasst sich die Gendermedizin.

Frauen mit Herzinfarkt kommen später in Behandlung

Der Herzinfarkt ist ein bekanntes Beispiel, bei dem die Medizin bisher Frauen zu wenig berücksichtigt hat. So betreffen angeblich Herzinfarkte mehrheitlich Männer. Und als typisches Symptom für einen Infarkt werden starke Schmerzen in der Brust, die in den linken Arm ausstrahlen, genannt. Allerdings stimmt beides so nicht. Denn sowohl Männer als auch Frauen können von einem Herzinfarkt betroffen sein, jedoch auf unterschiedliche Art und Weise. Frauen bekommen zwar seltener Herzinfarkte, sterben aber öfter daran. Denn sie haben im Vergleich zu Männern oft nur schwache und unspezifische Beschwerden wie Rücken- und Bauchschmerzen, Kurzatmigkeit, kalter Schweiss, Übelkeit und Erbrechen. Dies führt dazu, dass Frauen bis heute ihr Risiko für einen Infarkt unterschätzen und die Symptome oft falsch deuten: Bei einem möglichen Herzinfarkt rufen Frauen in der Schweiz im Schnitt eine halbe Stunde später um Hilfe als Männer.

Die Unterschiede sind gross

Es gibt aber noch viele weitere Geschlechtsunterschiede in der Medizin. An einem Schlaganfall sterben Frauen beispielsweise häufiger als Männer. Frauen leiden zudem öfter an Demenz, Osteoporose und an stressbedingten Herzkrankheiten, Männer öfter an Krebs und Gicht. Häufigkeit, Symptome und Verläufe unterscheiden sich dabei bei vielen Erkrankungen, weil Geschlechterunterschiede in fast allen Körperfunktionen zu finden sind. Auch die Psyche und das soziale Verhalten beeinflussen die Gesundheit – und unterscheiden sich ebenfalls: Männer trinken statistisch gesehen mehr Alkohol und leben risikofreudiger, während Frauen fürsorglicher und gesundheitsbewusster sind. 

Auch viele Medikamente haben bei Frauen und Männern nicht exakt dieselbe Wirkung. Das betrifft einfache Schmerzmittel genauso wie eine Reihe an verschreibungspflichtigen Medikamenten wie etwa gegen Bluthochdruck, Herzschwäche und Krebs. So beinhalten die empfohlenen Dosierungen vorwiegend keine für Frauen optimierten Angaben. Denn die grosse Mehrheit aller Medikamentenstudien beschreiben zum Beispiel nicht, wie der Monatszyklus von Probandinnen die Ergebnisse verändert. Zudem sind Schwangerschaften und/oder Stillzeiten oft Ausschlusskriterien bei Studien.

Aus diesem Grund besteht ein Mangel an medizinischen Daten zu Frauen. Das hat grosse Nachteile für sie: Denn wo keine fundierten Daten vorhanden sind, kann der Arzt bzw. die Ärztin auch eine Therapie nicht vollends individualisieren. Zudem erhalten Frauen bei Herzerkrankungen häufiger falsche Diagnosen oder die richtige erst mit Verspätung, da sich die zugrunde liegende Erkrankung anders äussern kann als bei Männern. Männer hingegen sind nur in wenigen Ausnahmefällen benachteiligt, etwa bei Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen. Hier müssen sie in der Regel länger auf die richtige Diagnose warten.

Nachteile von Frauen in der Medizin ausgleichen

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Situation bereits etwas verbessert. Früher waren medizinische Forschung, Apotheken und der Arztberuf weitgehend Männersache. Heute arbeiten mehr Frauen in diesen Bereichen, und aus ihren Aktivitäten hat sich in den 1990ern die Gendermedizin entwickelt. Sie ist ein Schritt hin zur personalisierten Medizin, die alle individuellen Besonderheiten eines Menschen beachten will.

Doch der Nachholbedarf ist weiterhin gross. Viele moderne Diagnose- und GesundheitsApps basieren noch immer auf einseitigen, männlich geprägten Daten, denn andere sind noch immer kaum verfügbar. Auch heute haben nur wenige Studien einen hohen Frauenanteil, und noch weniger Studien unterscheiden bei Wirkungen und Nebenwirkungen nach Geschlechtern. Doch Fortschritte zeichnen sich ab: Seit 2021 bieten die Universitäten Bern und Zürich einen Weiterbildungs-Studiengang für geschlechtsspezifische Medizin an. Im Rahmen des Aktionsplans Gleichstellungsstrategie 2030 soll zudem bis Mitte 2023 ein Bundesratsbericht zum Thema «Gesundheit der Frauen. Bessere Berücksichtigung ihrer Eigenheiten» erstellt werden. Doch bis alle Geschlechterunterschiede in der Praxis eingehend berücksichtigt werden, wird es wohl noch dauern.