Brigitte Wieser betreut ihren an Demenz erkrankten Mann. Sie erzählt, wie sie mit dieser Situation umgeht – und wo sie selber Hilfe erhält.

Brigitte Wieser lebt seit über 50 Jahren mit ihrem Mann René in St. Gallen. Kurz nach der Schneiderlehre hat sie ihn kennengelernt und geheiratet, wenige Jahre später kam Sohn Roger zur Welt. Während dieser Zeit arbeitete sie weiterhin von zu Hause aus als Schneiderin, kümmerte sich liebevoll um ihre Stubentiger und kochte für ihren Ehemann feine Gerichte. Er übernahm das Staubsaugen oder andere körperliche Arbeiten im Haushalt. Kurz: Sie führten während vieler Jahre eine Beziehung auf Augenhöhe.

Als Brigitte Wieser dann bei ihrem Mann vor sieben, acht Jahren erste Anzeichen einer Demenz feststellte, nahm sie diese recht gelassen. «Da seine Mutter schwer dement gewesen war, erkannte ich die Zeichen früh. Er hingegen meinte, ich sehe Gespenster», erzählt sie. «Es ging ihm körperlich gut und wir konnten noch vieles unternehmen, deshalb war es für mich damals kein grosses Problem.» Nach ihrer Frühpensionierung pflegte Brigitte Wieser zahlreiche Kontakte und ging freiwilligen Engagements nach: Im Kinderspital half sie auf der Neugeborenenstation, als Handarbeitsassistenz verwirklichte sie sich sogar noch in ihrem ursprünglichen Wunschberuf. Das Ehepaar träumte von Reisen und entschied sich zum ersten Mal gegen eine neue Katze, um die gewonnenen Freiheiten geniessen zu können.

Sein Zustand verschlechterte sich rapide

Kurze Zeit später – es war Herbst 2020 und die ganze Welt hielt wegen Corona den Atem an – musste René Wieser überraschend beide Augen unter Vollnarkose operieren. Das warf ihn komplett aus der Bahn. Vor Weihnachten folgte eine Lungenembolie, und das folgende Jahr 2021 war durch eine schwere Krankheit geprägt. Aufgrund einer Verengung des Wirbelkanals im Halsbereich (Stenose) konnte er die rechte Körperhälfte kaum noch bewegen. Brigitte Wieser dachte, das Endesei gekommen. Die beiden Spitalaufenthalte führten zu einer schweren Verwirrtheit, die René Wieser mit nach Hause nahm. Nachts wollte er durchs Fenster oder über den Balkon ins Freie, oder er schrie im Treppenhaus, dass er endlich heimwolle. Die Lebensqualität des Paares sank praktisch von einem Tag auf den andern rapide. Er war am körperlichen und geistigen Tiefpunkt angelangt, sie stürzte durch den unerwarteten Wandel in eine tiefe Traurigkeit.

Obwohl sich ihr Mann mittlerweile körperlich erholt hat, bleibt seine Betreuung der wichtigste Bestandteil im Leben von Brigitte Wieser. Allein kann der 80-Jährige nicht mehr aus dem Haus, zu Hause liegt er oft wach auf dem Bett und hängt seinen Gedanken nach. Schleichend kommt die Inkontinenz dazu, die Schamgrenze geht verloren. Seiner Frau gegenüber wird er besitzergreifend, flucht, will ihre Handlungen rigoros kontrollieren. «Unsere Beziehung, wie sie früher war, gibt es nicht mehr», erzählt Brigitte Wieser. «Wir hatten viele Jahre ein schönes Miteinander. Heute ist es eine Einbahnstrasse.»

Am stärksten zeigt sich dies in der Kommunikation. Alltägliche Wörter verschwinden mit dem Fortschreiten der Krankheit. Eine kürzlich erlebte Anekdote zeigt, wie krass sich das äussert: «Ich fragte meinen Mann, was es im Tagesheim zu essen gab. Er meinte: ‹einen Pudding›. Ich wusste es von der Speisekarte und fragte deshalb noch etwas nach. ‹Sie haben alles draufgeworfen›, erzählte er.» Brigitte Wieser schmunzelt: «Es gab Pizza.»

Angehörigengruppe hilft

Noch heute verneint René Wieser die Demenz, die erst vor einem Jahr offiziell diagnostiziert wurde. In ein Pflegeheim will er unter keinen Umständen. Was, wenn er sich irgendwann gar nicht mehr mitteilen kann? Wenn er seine Frau nicht mehr erkennt? Das macht Brigitte Wieser Angst. Sie tauscht sich deshalb regelmässig in einer Angehörigengruppe von Alzheimer St. Gallen und der beiden Appenzell aus. Über das Erlebte zu sprechen, das Gefühl, nicht mit allem allein zu sein – das tut ihr wahnsinnig gut. Auch der Tag pro Woche, den er im Tagesheim verbringt, verschafft Erleichterung. Und ihr langjähriger Hausarzt ist eine grosse Hilfe. Doch eigentlich bräuchte sie mehr: «Ich hätte dringend Ferien nötig.»

Da die St. Gallerin befürchtet, dass ein erneuter mehrtägiger Aufenthalt an einem fremden Ort ihn wieder zurückwirft, verzichtet sie darauf. Wie auf die schönen Stunden mit den Kindern im Handarbeitsunterricht. Oder die regelmässigen Mittagessen mit einer Verwandten. Der Radius ist klein geworden. Nach 50 Jahren Ehe ist dieser Abschnitt nun der Abschluss eines für lange Zeit erfüllten Lebens. Brigitte Wieser will ihrem Mann, solange es geht, beistehen.

««Da seine Mutter schwer dement gewesen war, erkannte ich die Zeichen früh»»
Brigitte Wieser