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APROPOS Ausgabe 1/21
«Es ist ein schleichender Prozess»

Foto: Christoph Läser, Basel

Als sie auf dem Wohnzimmerboden in einer Blutlache aufwacht, ist der Tiefpunkt erreicht. Am Abend zuvor hat Claudia eine Flasche Rum bis auf ein paar Finger breit geleert. Allein. Das war vor zwei Jahren. Claudia heisst eigentlich anders. Sie möchte anonym bleiben. Zu gross sind die Vorurteile, zu weit verbreitet das Unverständnis. «Uns Alkoholikern wird vorgeworfen, dass wir keine Willenskraft haben», erzählt Claudia. Sie müsste sich halt einfach etwas zusammenreissen, so die gängige Vorstellung. Doch so einfach ist es nicht: Alkoholsucht ist eine Erkrankung. Und jede Krankengeschichte verläuft anders.

Wann ist normal nicht mehr normal?

Claudias Geschichte fängt vor rund zehn Jahren an, vielleicht waren es auch eher acht oder neun. So genau sagen kann sie es nicht, denn «es war ein schleichender Prozess», wie sie erzählt. In ihrer Jugend hat Claudia einen normalen Alkoholkonsum. Mit Mitte 20 wird sie Mutter, stösst höchstens an Geburtstagen mal mit einem Glas Prosecco an, trinkt ansonsten kaum. «Ich habe den Alkohol immer sehr schnell gemerkt, nach ein zwei Gläsern war ich schon beduselt», erzählt sie. Als ihre Kinder älter und selbstständiger werden, genehmigt sich Claudia immer häufiger einen Schwips. Früher ass sie ihren Kummer weg, war stark übergewichtig. Jetzt trinkt sie stattdessen. Aus einem Feierabendbier werden zwei oder drei, irgendwann kommen Alcopops dazu. «Lange denkt man, dass das ja alle so machen», erzählt die heute 51-Jährige. Doch immer häufiger geht sie betrunken zu Bett, schläft im Sitzen ein. «In diesem Moment hat der Alkohol die Kontrolle übernommen», weiss sie heute.

Eine Erkältung führte zum Rückfall

Laut dem Bundesamt für Gesundheit trinkt jede fünfte Person in der Schweiz Alkohol missbräuchlich; das heisst regelmässig zu viel, zu oft oder zur falschen Zeit. Geschätzte 300’000 Personen in der Schweiz sind alkoholabhängig, wobei Alkoholsucht unterschiedliche Formen annehmen kann. Auch Claudias Trinkverhalten verläuft in unterschiedlichen Episoden. «Anfangs trank ich selten. Aber wenn ich trank, dann viel zu viel», erinnert sie sich. Eine Zeit lang setzt sie sich nach dem Feierabend direkt an den Stammtisch. Weil sie das Gefühl hat, dass sie dort als Frau schräg angeschaut wird, stillt sie ihren Durst irgendwann lieber in den eigenen vier Wänden. Es folgt eine mehrheitlich trockene Phase, dann lernt Claudia einen neuen Partner kennen, der gerne zur Flasche greift. Mit ihm schlägt sie vor allem am Wochenende über die Stränge, «gibt Stoff», wie sie sagt. Will heissen: Sie trinkt bis zum Rausch. Nach der Trennung bekommt Claudia ihre Sucht kurzzeitig wieder in den Griff, «dann bin ich ohne besonderen Grund wieder reingerutscht». Stein des Anstosses war eine simple Erkältung. «Eine Arbeitskollegin riet mir zu einem Hausmittel: Tee mit Rum.» Doch bei dem einen Schuss Hochprozentigem bleibt es nicht. Was als Nächstes geschieht, wissen wir schon: Claudia wacht mit blutverschmiertem Gesicht auf, kann sich nicht erinnern, wie sie gestürzt ist. Filmriss.

Die Abhängigkeit verbergen

Ab diesem Moment verselbstständigt sich Claudias Verlangen nach Alkohol. Eine Flasche Wein am Abend reicht nicht mehr, sie trinkt jetzt literweise aus dem Tetrapak. «Den kann man zusammenfalten und in den Abfall schmeissen, wenn er leer ist.» So kann Claudia ihre Abhängigkeit leichter verbergen. Auch bei ihrer Arbeit in einem Warenlager fällt niemandem auf, dass sie jetzt drei- bis viermal pro Woche verkatert ist. «Solange du funktionierst, sagt niemand etwas.» Claudia kann sich weiter einreden, dass sie die Situation unter Kontrolle hat. «Es dauerte eineinhalb Jahre, bis ich mir selber eingestand, dass ich ein Problem habe», sagt sie kopfschüttelnd. Sie geht bei der Stiftung Suchthilfe in St. Gallen in Beratung. «Anfangs war das eher eine Alibiübung, ich trank weiter.» Doch besonders die Familiengespräche öffnen ihr die Augen. «Bis dahin war mir nicht klar, wie stark ich meine Kinder mit meiner Alkoholsucht belaste», erzählt die zweifache Mutter. «Auf ein Mami sollte man sich verlassen können, mein Sohn und meine Tochter konnten das nicht.» Der Wendepunkt ist erreicht: Claudia beginnt Ende September 2020 eine stationäre Alkoholkurzzeittherapie im Spital Wattwil. Dort hat sie gelernt, mit dem emotionalen Stress und den Verlustängsten umzugehen, die sie früher zur Flasche greifen liessen. «Gefühle können schwimmen, man kann sie nicht ertränken», bringt sie es wortgewaltig auf den Punkt. Doch auch wenn Claudia zurzeit abstinent ist, weiss sie: «Der Alkoholismus ist eine chronische Krankheit, die mich mein Leben lang begleiten wird. Ich muss jeden Tag aufs Neue widerstehen.»